Die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft SPIO will ein „klares Zeichen gegen Rechtsextremismus“ setzen und entzieht dem großen deutschen Volksschauspieler Heinz Rühmann und 13 weiteren längst verstorbenen Filmkünstlern ihre Ehrenmedaille.
von Thomas Hartung
Es gibt Momente, in denen die Gegenwart sich selbst karikiert. Die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) erklärte jetzt, sie wolle ein „klares Zeichen gegen Rechtsextremismus“ setzen – und entzieht nachträglich 14 längst verstorbenen Filmkünstlern ihre Ehrenmedaille, darunter Schauspielern wie Heinz Rühmann und Olga Tschechowa, Regisseuren wie Leni Riefenstahl, Funktionären wie dem Berlinale-Erfinder Alfred Bauer. Und sogar Technikpionieren wie August Arnold (ARRI) oder Willi Burth, deren Geräte übrigens von allen Regimen genutzt wurden. Ein Preis, den niemand mehr in Händen hält, wird den Preisträgern posthum wieder abgenommen. Der moralische Gestus zielt weniger auf die Toten als auf die eigene Gegenwart: Seht her, wir haben verstanden! Doch je genauer man hinsieht, desto merkwürdiger wird diese nachträgliche Gesinnungsjustiz – gerade aus der Perspektive eines Landes, das seine Nachkriegsidentität einst darauf gründete, zwischen Schuld, Mitläufertum und Neuanfang zu unterscheiden.
Ausgangspunkt der Aktion ist eine Studie des Instituts für Zeitgeschichte, die Führungspersonal und Preisträger der SPIO nach „NS-belastet“ und „NS-konform“ sortiert – die Kategorie ist bewusst weit angelegt. Das Problem beginnt nicht damit, dass man Biographien kritisch beleuchtet, sondern damit, dass man sie, Jahrzehnte nach Entnazifizierung und späteren Ehrungen, in einem einzigen Akt symbolisch „einsackt“. Die Differenzierungen, die man im Strafrecht, in der historischen Forschung, in der öffentlichen Debatte mühsam errungen hat, werden in ein zweifarbiges Schema gepresst: Medaille oder keine Medaille, „NS-konform“ oder nicht. Ausgerechnet eine Branche, die sonst so stolz auf Ambivalenz, Zwischentöne und Grauschattierungen ist, verordnet sich an dieser Stelle die moralische Schwarzweißkamera.
Volksidol im Zwielicht
Heinz Rühmann ist ein idealer Prüfstein für diese neue Einfachheit. Er war der archetypische „kleine Mann“ des deutschen Films, vom Ufa-Tankstellenjungen über die „Feuerzangenbowle“ bis zum „Hauptmann von Köpenick“. Sein Gesicht überbrückte drei Gesellschaftssysteme: NS-Zeit, junge Bundesrepublik, zusammengewachsenes Deutschland. Und er bereitete in seiner bescheidenen Warmherzigkeit Deutschen seit vier Generationen unendlich viel Freude. Ja, es ist wahr: Rühmann war zwar kein Mitglied der NSDAP, arrangierte sich aber erkennbar mit dem Regime, profitierte von der Gleichschaltung der Filmindustrie, spielte heitere Rollen, während andere ausgeschaltet, vertrieben oder ermordet wurden. Zugleich jedoch war seine zweite Frau jüdischer Herkunft, was ihn in Konflikt mit den Rassegesetzen brachte; das gehört ebenso zur Biographie wie die posthume „Goldene Kamera“ 1995 als „Größter deutscher Schauspieler des Jahrhunderts“ und seine 13 Bambis.
Wer aus diesem Gemenge – Opportunismus, Karriere, Konflikt, spätere Integrationsfigur – nun rückwirkend vor allem den Stempel „NS-konform“ herausdestilliert und mit der nachgereichten Aberkennung einer Medaille ahndet, verabschiedet sich von der Tragik, die Rühmann zur emblematischen Figur der deutschen Filmgeschichte macht. Man reduziert die Frage „Wie lebte ein beliebter Schauspieler im Schatten der Diktatur?“ auf „Ist er medaillentauglich im Jahr 2025?“ Ein inquisitorisches Milieu, das so fragt, findet Mittel und Wege, jede Geistesgröße der Geschichte der eigenen Nation zu eliminieren.
Verschmelzung von Ästhetik und Macht
Etwas anders liegt der Fall bei Leni Riefenstahl: Sie bleibt eine der faszinierendsten und zugleich belastendsten Figuren der Filmgeschichte – eine Künstlerin von genialer Bildgewalt, deren Werk sich nicht von der Ideologie trennen lässt, der es diente. Schon in ihrem Regiedebüt „Das blaue Licht“ zeigte sich ihr außergewöhnliches Gespür für Licht, Rhythmus und mythische Körperinszenierung. Die Ästhetik war atemberaubend – und bereits gefährlich verführerisch. 1933 trat sie der NSDAP bei, Hitler ernannte sie persönlich zur „Reichsfilmregisseurin“. „Triumph des Willens“ und „Olympia“ gelten bis heute als Meilensteine der Filmtechnik: innovative Kamerafahrten, Unterwasseraufnahmen, Zeitlupe, rhythmische Montage, ästhetisierte Bildkomposition – Techniken, die das moderne Sport- und Eventfernsehen bis heute prägen. Kein anderer Film hat die Masseninszenierung des Totalitarismus so perfekt in Schönheit übersetzt. Genau darin liegt das Entsetzen: Die gleiche Hand, die Schönheit schuf, machte Grauen verführerisch. Als „Mitläuferin“ eingestuft, aber nie richtig verurteilt, durfte sie nicht mehr filmen und drehte erst in den 1970er Jahren bei den Nuba in Sudan wieder – und mit über 70 als Unterwasserfotografin.
Man kann Riefenstahl nicht würdigen, ohne sie zu verurteilen, und sie nicht verurteilen, ohne ihre Meisterschaft anzuerkennen. Sie war keine bloße Auftragsempfängerin; sie war besessen von der Idee, das „Schöne“ und „Erhabene“ einzufangen – und hat dafür das Böse in nie gesehener Pracht gezeigt. Ihre Filme bleiben Warnung und Verführung zugleich. Eine größere Ambivalenz hat das Kino selten hervorgebracht. Technisch und künstlerisch brillant, aber politisch kalt, gehören ihre späteren Selbstentlastungen zum toxischen Nachspiel der NS-Zeit. Dass sie in einer Reihe mit Rühmann, Burth oder Arnold erscheint, zeigt weniger ihre Unschuld als die Verwischung der Unterschiede; also inszeniert man einen Akt der späten Reinigung – mit kollektivem Großbesen.
Täter statt Tüftler
Besonders ärgerlich ist diese Geste an einer Figur wie Willi Burth: Der 1904 in Saulgau geborene Sohn eines Textilhändlers machte mit zehn Jahren erste Kinovorführungen in der Turnhalle, bastelte an Projektoren, baute eigene Kinos, revolutionierte schließlich mit seinem „No Rewind Filmteller“ die Projektionstechnik – eine Erfindung, ohne die Multiplex-Kinos und Dauerbetrieb so kaum denkbar gewesen wären. 1933 in die NSDAP eingetreten, wurde er nach dem Krieg als Mitläufer eingestuft, baute seine Kinos wieder auf, erhielt Bundesverdienstkreuz und Technik-Oscar, eine Berufsschule in seiner Heimatstadt trägt seinen Namen, ein Museum erinnert im benachbarten Ravensburg an ihn. Hier ist der schwäbische Typus: Der Tüftler, der mit Schraubenzieher und Ingenieursstolz mehr für die praktische Kultur geleistet hat als mancher Kulturpolitiker mit hundert Preisen. Man kann seine Parteimitgliedschaft kritisieren. Aber die nachträgliche Aberkennung einer Branchenmedaille wirkt wie eine späte Ohrfeige in Richtung Oberschwaben – verabreicht von Funktionären, deren eigene Biographien selten die Härte ertragen müssen, die sie an Tote anlegen.
Ähnlich ambivalent sind die Fälle von August Arnold, Alfred Bauer und Olga Tschechowa. Arnold, der Mitbegründer der Weltfirma ARRI, war wie Burth ein Technikpionier: Bastler, Kameramann, Produzent, Erfinder der Arriflex, NSDAP-Mitglied seit 1933 – einerseits Nutznießer, andererseits die Verkörperung jener Ingenieurskultur, ohne die der deutsche Film technisch nie den Anschluss gefunden hätte. Alfred Bauer, erster Berlinale-Direktor, war als Jurist und Referent in der Reichsfilmintendanz in den NS-Apparat verstrickt und hat diese Verstrickung im Entnazifizierungsverfahren zu kaschieren versucht. Zugleich verdankt ihm das Festival seine frühen Strukturen und den Aufstieg zur internationalen Institution. Oder Olga Tschechowa, Emigrantin aus Russland, die die „Grande Dame“ des NS-Kinos, Hitlers Tischnachbarin und Melodramenstar wurde, zugleich eine Figur zwischen Legende, Gerüchten über Spionagekontakte und Nachkriegstheater. Man kann all das kritisch sehen. Aber wer aus dieser Gemengelage im Jahr 2025 einen einzigen moralischen Schlusspunkt macht – Medaille weg, damit die Gegenwart rein ist – verwechselt historische Typenbildung mit einem nachgereichten Gesinnungsabitur.
Die Inflation des Verdachts
Dass dieselbe Logik längst in die Provinz diffundiert ist, zeigt der Fall Erich Ponto. Gegen den baden-württembergischen Staatsschauspieler und Bundesverdienstkreuzträger (gestorben 1957) – unvergessenen als Prof. Crey aus der „Feuerzangenbowle“, nach dem ein Schauspielpreis und eine Stuttgarter Straße benannt sind –, werden heute Nazi-Vorwürfe mobilisiert, weil er auf Hitlers “Gottbegnadeten”-Liste stand und in Filmen wie „Die Rothschilds“ mitspielte. Balzer hatte diese Attacke als absurd zurückgewiesen: „Es ist beschämend, wie in unserem Land inzwischen mit Menschen umgegangen wird, die im NS-System überlebten, ohne als Kommunist im KZ gesessen zu haben.“ Hier tritt offen zutage, worum es geht: nicht mehr um nüchterne Analyse, sondern um eine moralische Reinigung des kulturellen Gedächtnisses. Wer zwischen 1933 und 1945 auf einer Bühne stand, vor einer Kamera agierte, eine Schraube an einem Projektor drehte, wird unter Generalverdacht gestellt – es sei denn, er kann nachweisen, dass er sich aktiv dissident verhalten hat. Das ist die Verkehrung der historischen Beweislast: Nicht mehr der Vorwurf der Täterschaft, sondern der Nachweis der makellosen Gesinnung wird zur Bedingung posthumer Anerkennung.
Umso dubioser mutet der Ausnahmefall an, den die SPIO wortstark feiert: Hilmar Hoffmann, ehemaliger Frankfurter Kulturdezernent und Präsident des Goethe-Instituts, wurde die Medaille nicht aberkannt, obwohl er als Abiturient 1943 in die NSDAP eingetreten war. Er habe sich nach 1945 aber zeitlebens „wirksam für eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit eingesetzt und Akzente für eine künstlerische Gegenposition zum nationalsozialistischen Filmerbe gesetzt.“ Das Präsidium habe dies als Beleg dafür gesehen, dass Menschen sich ändern und kritisch-selbstreflektiert aus Verfehlungen lernen können. Rühmann, Burth oder Bauer darf man das dagegen absprechen? Die SPIO kündigt zugleich an, die Ehrenmedaille ganz abzuschaffen und einen neuen Preis zu stiften, der künftig auch „gesellschaftliches Engagement für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ würdigen soll. Damit ist der Wandel perfekt: Aus einem Branchenpreis für Verdienste um den Film wird eine Auszeichnung für politisch-moralische Korrektheit. Der „gute Mensch“ tritt an die Stelle des großen Kameramanns, die richtige Haltung ersetzt die technische oder künstlerische Leistung. Das passt zur Republik der Leitbilder, in der man vor jeder Entscheidung fragt: „Welches Signal sendet das?“, nicht: „Ist es sinnvoll?“
Der “schwäbische Maßstab”
So entsteht ein merkwürdiger Doppelstandard: In Fragen der Migration, des Klimas, der Energiepolitik wird jede Vereinfachung beklagt, jede schwarzweiße Erzählung als „Populismus“ gebrandmarkt. In der Erinnerungspolitik hingegen erlaubt man sich denselben Populismus, den man andernorts bekämpfen will: Historische Figuren werden in Helden und Schurken sortiert, Preise in moralische Währung verwandelt, Differenzierungen weggebügelt, weil sie „schwer vermittelbar“ sind. Gerade aus schwäbischer Perspektive ist diese Nachträglichkeit irritierend. In Oberschwaben steht Willi Burth nicht als Symbolfigur der „Volksgemeinschaft“, sondern als Inbild des tüchtigen Tüftlers, der in der Turnhalle die ersten Filme vorführt, sich hocharbeitet, mit einem technischen Einfall die Welt der Kinos verändert und dafür erst spät, aber dann mit berechtigtem Stolz geehrt wird. Das schwäbische Gerechtigkeitsgefühl fragt deshalb anders: Hat einer etwas geleistet? Hat er seine Fehler bezahlt, seine Zeit durchlaufen, wurde er entnazifiziert, noch einmal geehrt, in der Nachkriegsgesellschaft integriert? Wenn ja, dann ist es grotesk, ihn Jahrzehnte nach seinem Tod noch einmal symbolisch vorzuführen, nur damit heutige Funktionäre sich gereinigt fühlen.
Der „schwäbische Maßstab“ ist nicht weich, aber konkret. Er kann sagen: Rühmann bleibt Opportunist und Volksidol, Arnold Technikpionier mit braunen Flecken, Bauer Karrierist im Zwielicht, und Burth Mitläufer und Tüftler… Kein Einziger von ihnen ist ein Held. Aber auch keiner wird ehrlicher, wenn man ihm im Jahr 2025 eine Medaille wegnimmt, die ihm zu Lebzeiten niemand verweigert hat.
Unsere Erinnerungskultur muss endlich erwachsen werden!
Eine rechtsintellektuelle Kritik an dieser neuen Praxis richtet sich nicht gegen Aufklärung, sondern gegen ihre Reduktion auf Symbolakte. Die Frage kann nicht lauten: „Wie machen wir uns selbst moralisch unangreifbar?“, sondern: „Was lernen wir aus dieser Geschichte für den Umgang mit Macht, Opportunismus und technischer Brillanz im Dienst fragwürdiger Systeme?“ Eine erwachsene Erinnerungskultur bleibt bei der Zumutung, dass Menschen mehrdeutig sind – auch und gerade in der Diktatur. Sie hält es aus, dass ein Rühmann Millionen Freude machte und zugleich vom System profitierte; dass eine Riefenstahl filmische Maßstäbe setzte und sie in den Dienst des Bösen stellte; dass ein Burth mit seiner Erfindung Multiplex-Kinos möglich machte und trotzdem Parteigenosse war; dass ein Bauer die Berlinale prägte und seine Vergangenheit beschönigte; dass eine Tschechowa zugleich Star und Profiteurin war.
Wer diese Ambivalenzen in ein einziges Wort – „NS-belastet“ – presst und daraus einen nachträglichen Entzug von Ehren ableitet, betreibt nicht Vergangenheitsbewältigung, sondern Vergangenheitskosmetik. Man reinigt die Vitrinen, statt die Geschichte zu erzählen, die zu den Objekten gehört. Wenn heute ausgerechnet ein schwäbischer Landtagsabgeordneter wie AfD-Kultursprecher Rainer Balzer „Finger weg von Erich Ponto!“ ruft und den Tüftler Willi Burth gegen die moralische Abrissbirne verteidigt, dann ist das ein dringend nötiges Angebot zu einem reiferen Umgang mit der eigenen Geschichte. Nicht jede politische Medaille erzählt eine edle Geschichte – aber jede vorschnelle Aberkennung erzählt ideologisch eine sehr dürftige und moralisch sehr armselige.
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