Hintergründe

Der extremste Fall der DDR-Flucht

Der extremste Fall der DDR-Flucht
Der DDR-Flüchtling Werner Weinhold steht 1976 an der Zonengrenze.

Die Flucht von Werner Weinhold aus der DDR vor 50 Jahren war spektakulär und brutal. Er erschoss zwei DDR-Grenzer, was ihm den Hass der Stasi einbrachte, die ihn in der Bundesrepublik ermorden wollte. Der Fall berührt neben politischen auch juristische und moralische Fragen.

von Gregor Hierholze

In der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember 1975 trat der 26jährige NVA-Soldat Werner Weinhold seinen Weg in den Westen an — bewaffnet, vorbestraft und auf der Flucht vor einem in der DDR drohenden erneuten Strafverfahren. Auf dem Weg Richtung bayerisch-thüringischer Grenze stahl er Fahrzeuge und Waffen. In einem Grenzabschnitt bei Veilsdorf erschoß Weinhold am 19. Dezember die beiden DDR-Grenzsoldaten Jürgen Lange und Klaus-Peter Seidel, dann gelang ihm die Flucht nach Bayern. Zwei Tage später wurde er in Recklinghausen festgenommen. Ein Auslieferungsersuchen der DDR wurde abgelehnt, da Weinhold in der DDR die Todesstrafe drohte.

Der Fall löste in beiden deutschen Staaten ein politisches und juristisches Erdbeben aus. Das Strafverfahren gegen Weinhold stand unter den Schwierigkeiten möglicher Desinformation seitens der Staatssicherheit. War es Mord, war es Notwehr, waren die Waffen, aus denen keine Schüsse erfolgt sein sollen, der beiden Grenzer möglicherweise manipuliert?

Im Zweifel für den Angeklagten: Das Landgericht Essen sprach Weinhold 1976 frei. Da der Bundesgerichtshof das Urteil aber auf Antrag der Staatsanwaltschaft aufhob, mußte sich diesmal das Landgericht Hagen mit dem Fall befassen, das ihn im Oktober 1978 zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft verurteilte. Weinhold kam 1982 vorzeitig aus der Haft frei.

Stasi wollte sich an Weinhold rächen

Die Stasiunterlagen belegen, daß der Fall Weinhold für die DDR damit keineswegs abgeschlossen war, denn nur ein Jahr nach Weinholds Flucht versuchte ein weiterer Mann an derselben Stelle erfolgreich die Flucht über die Grenze. Die Grenzer hatten aus Angst nicht geschossen. Die entsprechende Akte der Staatssicherheit trägt den Namen „Feigling“.
Für die Planer der Stasi war das offenbar Grund genug, sich an Weinhold zu rächen. Der Deserteur wurde mit dem operativen Vorgang „Terrorist“ zur Ermordung freigegeben.

Der extremste Fall der DDR-Flucht
Der getötete DDR-Grenzer Klaus-Peter Seidel.

Spezialisten der MfS-Abwehr-Hauptabteilung I sollten ihn entweder an seinem Heimatort in Marl entführen und an einer Bahnstrecke einen Suizid, alternativ auch liquidieren und andernorts einen Raubüberfall mit Todesfolge vortäuschen. Wörtlich heißt es in den Unterlagen aus dem Jahr 1985: „1. Habhaft werden des ‚Terrorist‘ und Vortäuschung eines Selbstmordes unter Nutzung der in unmittelbarer Nähe des Anmarschweges Wohnung-Arbeitsstelle gelegenen Gleisanlage des S-Bahn-Nahverkehrs Rhein-Ruhr (Gleiskörper oder Stromfalle durch Ausnutzung des elektrifizierten Streckennetzes).  2. … durch Erschießen mittels einer Handfeuerwaffe Beretta – schallgedämpft – auf dem Anmarschweg Wohnung-Arbeitsstelle und nachfolgende Beseitigung von Spuren … 3. … durch Vortäuschung eines Raubüberfalls“. Zur Ausführung kam der Vorgang nicht mehr. Die Gründe dafür sind unklar.

Weinholds Tat ist nicht isoliert zu sehen, sondern Teil der vielschichtigen, oft tödlichen Geschichte des innerdeutschen Grenzregimes. Für die Berliner Mauer liegen gesicherte Zählungen bei mindestens 140 Todesopfern (1961–1989) allein in Berlin. Die Zahlen für die gesamte innerdeutsche Grenze sind höher, zumal jahrelang Daten vertuscht oder geheim gehalten wurden. Fluchtversuche reichten über die Jahrzehnte vom Durchbruch an weniger gesicherten Orten, über Tunnel, mit Fahrzeugen über Transitstrecken, per Flugzeug oder über legale/illegale Exportwege — und sie waren für viele Suizid-, Risiko- oder Lebensentscheidungen.

DDR-Grenze war eine Todeszone

Die Grenze war kein abstraktes Hindernis, sondern ein tödliches System. Mehr noch, die Aktenlage zeigt: Das Regime versuchte nicht nur, seine Grenze unter dem Vorwand des Antifaschismus gegen Republikflucht zu verteidigen, sondern darüber hinaus, entkommene „Staatsfeinde“ außerhalb seines Territoriums zu liquidieren.

Der Fall Weinhold und das tödliche Grenzregime machten einerseits mit Schießbefehl, Minen, Signal- und Sperrzonen die strukturelle Brutalität des Systems deutlich, aber auch die Bandbreite an Motiven und Methoden von Flüchtlingen — sich der politischen Verfolgung, dem drakonischen Strafsystem und der Unfreiheit in der offenen Meinungsäußerung zu entziehen. Die DDR vollstreckte die Todesstrafe bis 1981 und schaffte sie erst 1987 ab – die Bedrohung war insoweit real.

War Weinhold nur DDR-Opfer oder Mörder?

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Der ebenfalls getötete DDR-Grenzer Jürgen Lange.

Die Prozesse gegen Weinhold spiegeln aber auch die juristischen Schwierigkeiten bei Grenz-Gewalttaten: Wie ist Verhalten zu bewerten, das in einem völker- und strafrechtlich komplizierten Grenzraum stattfindet? Der erste Freispruch, die mediale Erregung, das spätere Revisionsverfahren und schließlich die Verurteilung zeigen, wie schwierig die Einordnung war – sowohl rechtlich als auch politisch. In der öffentlichen Debatte in der Bundesrepublik verschmolzen kriminalrechtliche, moralische und antikommunistische Argumente. Für die einen war Weinhold ein skrupelloser Mörder, für andere ein Verzweifelter, der sich gegen ein tödliches Grenzregime zur Wehr setzte.

Der innerdeutsche Legitimitätskonflikt zwischen Strafrecht und Politik im Fall Weinhold wurde an der Cambridge-Universität von Pertti Ahonen aufgearbeitet. Die Polarisierung in den Medien zwischen „krimineller Doppelmord“ und „Beleg für die Unmenschlichkeit des Grenzregimes“ bot dafür reichlich Angriffsfläche. Sicher belegt ist, daß das Unrechtssystem aus der tödlichen Gegenwehr Werner Weinholds sogar noch Kapital zu schlagen suchte.

Weinhold allerdings nur als Opfer zu sehen, würde seiner Biographie auch nicht gerecht. 2005 verletzte er in einer Kneipe einen Bekannten mit einer Schußwaffe schwer, wofür er zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden ist. Er starb im Mai 2024 im Alter von 74 Jahren.

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