Hintergründe

Deutschland und Russland sollten sich gegenseitig ausbluten

Deutschland und Russland sollten sich gegenseitig ausbluten
Deutsche und sowjetische Soldaten am 20. September 1939 an der Demarkationslinie zur Aufteilung Polens.

Putins Skepsis gegenüber den Westmächten resultiert aus deren Beschwichtigungspolitik bis 1941: Vor allem London war nach Kräften bemüht, Hitler zum Angriff auf die UdSSR zu drängen. Ein Gastbeitrag des russischen Präsidenten.

von Wladimir Putin

80 Jahre sind seit dem Ende des Großen Vaterländischen Krieges vergangen. Im Laufe der Jahre sind mehrere Generationen herangewachsen. Die politische Landkarte des Planeten hat sich verändert. Die Sowjetunion, die einen großen, vernichtenden Sieg über den Nationalsozialismus errungen und die ganze Welt gerettet hat, gibt es nicht mehr. Und die Ereignisse dieses Krieges sind, auch für seine Teilnehmer, in eine ferne Vergangenheit gerückt. Aber warum wird in Russland der 9. Mai als der wichtigste Feiertag gefeiert, und warum scheint am 22. Juni das Leben einzufrieren und man hat regelrecht einen Kloß im Hals? {Am 22. Juni 1941 hat Deutschland die Sowjetunion angegriffen.} (…)

Für meine Eltern bedeutete der Krieg die schreckliche Qual des belagerten Leningrads, wo mein zweijähriger Bruder Vitya starb, wo meine Mutter auf wundersame Weise überlebte. Mein Vater meldete sich freiwillig, um seine Heimatstadt zu verteidigen, er tat dasselbe wie Millionen sowjetischer Bürger. Er wurde an der Newski-Brücke schwer verwundet. Und je weiter diese Jahre sich entfernen, desto größer wird der Wunsch, mit den Eltern zu sprechen, mehr von ihnen über die Zeit des Krieges zu erfahren. Aber heute ist es unmöglich, irgendetwas zu fragen, also bewahre ich die Gespräche mit meinem Vater und meiner Mutter über dieses Thema in meinem Herzen, auch ihre zurückgehaltenen Emotionen. (…)

Zum Versailler Vertrag

Ich erinnere noch einmal an das Offensichtliche: Die Ursachen des Zweiten Weltkriegs sind größtenteils auf die Entscheidungen zurückzuführen, die nach dem Ersten Weltkrieg getroffen wurden. Der Versailler Vertrag ist für Deutschland zu einem Symbol tiefer Ungerechtigkeit geworden. De facto ging es darum, das Land auszurauben, das den westlichen Verbündeten enorme Reparationen zahlen musste, was seine Wirtschaft vollkommen erschöpft hat. Der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, der französische Marschall Foche, hat Versailles prophetisch charakterisiert: «Das ist kein Frieden, das ist ein Waffenstillstand für zwanzig Jahre.»

Es war die nationale Demütigung, die den Nährboden für radikale und revanchistische Gefühle in Deutschland geschaffen hat. Die Nazis haben geschickt mit diesen Gefühlen gespielt, haben ihre Propaganda darauf aufgebaut und sie versprachen, Deutschland vom «Erbe von Versailles» zu befreien, seine frühere Macht wiederherzustellen, damit haben sie das deutsche Volk in einen neuen Krieg getrieben. Es ist paradox, aber westliche Staaten, insbesondere das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten, haben das direkt oder indirekt ermöglicht. Ihre Finanz- und Industriekreise haben sehr aktiv in deutsche Fabriken investiert, die militärisches Material hergestellt haben. Und unter der Aristokratie und dem politischen Establishment im Westen gab es viele Anhänger radikaler, rechtsextremer, nationalistischer Bewegungen, die damals in Deutschland und Europa an Zulauf gewannen.

Die «Friedensordnung» von Versailles hat zahlreiche verborgene Widersprüche und offensichtliche Konflikte geschaffen. Ihr Grund waren die Grenzen der neuen europäischen Staaten, die von den Siegern des Ersten Weltkriegs willkürlich gezogen wurden. Fast unmittelbar nach ihrem Erscheinen auf der Landkarte begannen territoriale Streitigkeiten und gegenseitige Ansprüche, die zu Zeitbomben wurden. (…)

Zum Münchner Abkommen

Der Völkerbund konnte neue Konflikte in verschiedenen Teilen der Welt, wie den Angriff Italiens auf Äthiopien, den Spanischen Bürgerkrieg, Japans Aggression gegen China und den Anschluss Österreichs nicht verhindern. Und im Falle der Münchner Verschwörung, an der neben Hitler und Mussolini die Führer Großbritanniens und Frankreichs beteiligt waren, wurde mit der vollen Zustimmung des Rates des Völkerbundes die Zerstückelung der Tschechoslowakei {1938} beschlossen. Ich stelle in diesem Zusammenhang fest, dass Stalin sich, im Gegensatz zu vielen der damaligen Führer Europas, nicht mit einem persönlichen Treffen mit Hitler befleckt hat, der damals in westlichen Kreisen als respektabler Politiker bekannt und ein gern gesehener Gast in den europäischen Hauptstädten war. {Das Münchner Abkommen wird in Russland «Münchner Verschwörung» genannt. Es erlaubte Hitler den Anschluss des Sudetenlandes, das seit 1918 zur Tschechoslowakei gehört hatte.}

Bei der Aufteilung der Tschechoslowakei arbeitete Polen mit Deutschland zusammen. Sie haben im Voraus und gemeinsam entschieden, wer welche Teile der Tschechoslowakei bekommen wird. Am 20. September 1938 informierte Polens Botschafter in Deutschland, Jozef Lipski, den polnischen Außenminister Jozef Beck über Hitlers Zusicherungen: «Sollte es auf der Grundlage polnischer Interessen in Teschen, {Dreiländereck}zwischen Polen und der Tschechoslowakei, zu einem Konflikt kommen, wird das Reich auf unserer (der polnischen) Seite stehen.» (…) In Polen wusste man, dass ihre aggressiven Pläne ohne Hitlers Unterstützung zum Scheitern verurteilt gewesen wären. Hier zitiere ich eine Aufzeichnung des Gesprächs des deutschen Botschafters in Warschau, Moltke, mit Jozef Beck über die polnisch-tschechischen Beziehungen und die Position der UdSSR in dieser Angelegenheit vom 1. Oktober 1938: «Herr Beck (…) dankte für die loyale Auslegung polnischer Interessen auf der Münchner Konferenz, sowie für die Aufrichtigkeit der Beziehungen während des tschechischen Konflikts. Die Regierung und die Öffentlichkeit (Polens) würdigen die Position des Führers und Reichskanzlers voll und ganz.» (…)

Zur Beschwichtigungspolitik

Heute möchten europäische Politiker, insbesondere polnische Politiker, München «verschweigen». Warum? Nicht nur, weil ihre Länder damals ihre Verpflichtungen verraten haben, indem sie die Münchner Verschwörung unterstützt und einige sich sogar an der Aufteilung der Beute beteiligt haben, sondern auch, weil es irgendwie unangenehm ist, sich daran zu erinnern, dass in diesen dramatischen Tagen des Jahres 1938 nur die UdSSR für die Tschechoslowakei eingetreten ist. (…) Großbritannien und auch Frankreich, das damals der wichtigste Verbündete der Tschechen und Slowaken war, haben sich entschieden, ihre {7Beistands-}Garantien aufzugeben und das osteuropäische Land seinem Schicksal zu überlassen. Sie haben die Tschechoslowakei nicht nur im Stich gelassen, sondern haben damit die Bestrebungen der Nazis mit dem Ziel nach Osten gelenkt, dass Deutschland und die Sowjetunion unweigerlich zusammenstoßen und sich gegenseitig ausbluten würden.

Das war die westliche Politik des «Appeasement» {Beschwichtigungspolitik}. (…) Gleichzeitig hat die Sowjetunion versucht, jede Chance zu nutzen, um eine Anti-Hitler-Koalition zu schaffen, ich wiederhole es, trotz der zweideutigen Position der westlichen Länder. So erhielt die sowjetische Führung im Sommer 1939 über die Geheimdienste detaillierte Informationen über anglodeutsche Kontakte hinter den Kulissen. Bitte beachten Sie: Sie wurden sehr intensiv und fast gleichzeitig mit den trilateralen Verhandlungen von Vertretern Frankreichs, Großbritanniens und der UdSSR {zur Eindämmung Deutschlands} geführt, welche die westlichen Partner bewusst verzögerten. In diesem Zusammenhang erwähne ich ein Dokument aus britischen Archiven – eine Anweisung an die britische Militärmission in Moskau, die im August 1939 eintraf. Darin heißt es ausdrücklich, dass die Delegation «sehr langsam verhandeln» solle; dass «die Regierung des Vereinigten Königreichs nicht bereit ist, detaillierte Verpflichtungen einzugehen, die unsere Handlungsfreiheit einschränken können». {Damit wurde eine Vereinbarung London–Moskau immer weiter verzögert, sodass die Sowjetunion fürchtete, im Falle einer deutschen Besetzung Polens plötzlich die Wehrmacht an ihren Grenzen zu haben.} (…)

Zum Hitler-Stalin-Pakt

In der entstandenen Situation hat die Sowjetunion {am 23. August 1939} den Nichtangriffsvertrag mit Deutschland unterzeichnet und war damit das letzte der europäischen Länder, das so etwas mit Deutschland unterzeichnet hat. Es geschah vor dem Hintergrund einer realen Kriegsgefahr an zwei Fronten, mit Deutschland im Westen und mit Japan im Osten, wo es bereits heftige Kämpfe am Halhin-Gol-Fluss gab.

Stalin und seinem Umfeld kann man völlig zu Recht vieles vorwerfen. Wir erinnern uns sowohl an die Verbrechen des Regimes gegen sein eigenes Volk als auch an die Schrecken der massenhaften Repressionen. Ich wiederhole, man kann den sowjetischen Führern in vielerlei Hinsicht Vorwürfe machen, aber man kann ihnen keinen Mangel am Verständnis äußerer Bedrohungen vorwerfen. (…) Es wird heute viel über den damals geschlossenen Nichtangriffsvertrag geredet, und es werden deshalb dem modernen Russland viele Vorwürfe gemacht. (…) Ich möchte Sie aber auch daran erinnern, dass die Sowjetunion eine rechtliche und moralische Bewertung des so genannten Molotow-Ribbentrop-Pakts {Der Hitler-Stalin-Pakt heißt in Russland Molotow-Ribbentrop-Pakt, nach den Namen der Außenminister} vorgenommen hat. Die Resolution des Obersten Sowjet vom 24. Dezember 1989 verurteilte das geheime Zusatzprotokoll offiziell als einen «Akt der persönlichen Macht», der nicht «den Willen des sowjetischen Volkes widerspiegelt hat, das nicht für diese Verschwörung verantwortlich ist». (…)

Stalin nahm Hitlers Angebot nicht an

Später, während der Nürnberger Prozesse {1945/46}, erklärten die deutschen Generäle ihren schnellen Erfolg im Osten. Der ehemalige Stabschef der operativen Führung des Oberbefehlshabers der deutschen Streitkräfte, General Jodl, gab zu: «Dass wir nicht schon 1939 verloren haben, liegt nur daran, dass etwa 110 französische und britische Divisionen, die während unseres Krieges mit Polen im Westen gegen 23 deutsche Divisionen standen, völlig passiv geblieben sind.»

Ich habe aus den Archiven die ganze Palette von Dokumenten angefordert, die mit Kontakten der UdSSR mit Deutschland während der dramatischen Tage im August und September 1939 zusammenhängen. Aus Ziffer 2 des geheimen Zusatzprotokolls zum Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der UdSSR vom 23. August 1939 geht hervor, dass im Falle des territorialen und politischen Umbaus der Regionen, aus denen der polnische Staat bestand, die Grenze der Interessensphären der beiden Länder «ungefähr entlang der Grenzen der Flüsse Narev, Weichsel und Sana verlaufen sollte». Mit anderen Worten, es ging nicht nur um Gebiete, in denen eine überwiegend ukrainische und weißrussische Bevölkerung lebte, sondern auch die historisch polnischen Gebiete zwischen Bug und Weichsel fielen {laut Zusatzabkommen} in die sowjetische Einflusssphäre. (…) Das gilt auch für die Tatsache, dass Berlin unmittelbar nach dem Angriff auf Polen in den ersten Septembertagen 1939 Moskau immer wieder zur Teilnahme an der Militäraktion aufgefordert hat. Die sowjetische Führung ignorierte solche Appelle jedoch und vermied bis zum letzten Moment eine Einmischung in die dramatischen Ereignisse.

Erst als endgültig klar wurde, dass Großbritannien und Frankreich nicht versuchten, ihrem Verbündeten {Polen} zu helfen und die Wehrmacht in der Lage war, ganz Polen schnell zu besetzen und sogar Minsk zu erreichen, wurde beschlossen, am Morgen des 17. September die militärischen Einheiten der Roten Armee in die Gebiete einrücken zu lassen, die heute Teile von Belarus, der Ukraine und Litauen sind.

Es ist offensichtlich, dass es keine andere Möglichkeit gab. Andernfalls wären die Risiken für die UdSSR um ein Vielfaches gewachsen, denn, ich wiederhole es, die vorherige sowjetisch-polnische Grenze verlief nur wenige Dutzend Kilometer von Minsk entfernt, und der unvermeidliche Krieg mit den Nazis hätte für das Land {Sowjetunion} aus einer äußerst ungünstigen strategischen Position begonnen. Und Millionen von Menschen verschiedener Nationalitäten, darunter Juden, die in Brest und Hrodna, Peresim, Lemberg und Wilna lebten, wären den Nazis und ihren lokalen Handlangern, Antisemiten und radikalen Nationalisten, zur Vernichtung überlassen worden. (…)

Bekanntermaßen ist der Konjunktiv schwierig auf Ereignisse anzuwenden, die bereits eingetreten sind. Ich sage nur, dass die sowjetische Führung im September 1939 die Gelegenheit hatte, die westlichen Grenzen der UdSSR weiter nach Westen bis nach Warschau zu schieben, aber beschlossen hat, dies nicht zu tun. (…) Am 4. Oktober 1939 erklärte der britische Außenminister Halifax im House of Lords: «Es sei daran erinnert, dass die sowjetische Regierung die Grenze im Wesentlichen auf die Linie verlagert hat, die Lord Curzon während der Konferenz von Versailles empfohlen hatte. (…)» Der bekannte britische Politiker und Staatsmann Lloyd-George unterstrich: «Die russische Armee hat Gebiete besetzt, die nicht polnisch sind und die nach dem Ersten Weltkrieg gewaltsam von Polen erobert wurden. (…) Es wäre ein Akt kriminellen Wahnsinns, die russischen Bewegungen mit den Bewegungen der Deutschen auf ein und dieselbe Stufe zu stellen.» (…)

Es ist daher unfair zu behaupten, dass der zweitägige Besuch des Nazi-Außenministers Ribbentrop in Moskau der Hauptgrund für den Zweiten Weltkrieg ist. Alle führenden Länder tragen in unterschiedlichem Maße ihren Anteil an seinem Anfang. Jeder machte irreparable Fehler, weil man glaubte, man könne andere überlisten, sich einseitige Vorteile sichern oder sich von dem bevorstehenden, weltweiten Übel fern halten. Und für diese Kurzsichtigkeit, kein System kollektiver Sicherheit zu schaffen, mussten Millionen von Menschen mit ihrem Leben zahlen. (…)

Viele unserer Partner sind jedoch noch nicht zur Zusammenarbeit bereit. Im Gegenteil, indem sie ihre Ziele verfolgen, erhöhen sie die Zahl und das Ausmaß der medialen Angriffe gegen unser Land, um uns zu zwingen, uns zu entschuldigen. Damit wir uns schuldig fühlen, verbreiten sie heuchlerische und politisierte Erklärungen. So warf die vom Europäischen Parlament angenommene Entschließung «Über die Bedeutung der Bewahrung der historischen Erinnerung für die Zukunft Europas» vom 19. September 2019 der UdSSR direkt – zusammen mit Nazi-Deutschland – die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs vor. Natürlich findet sich dort kein Wort über München. (…)

Der sowjetische Blutzoll

Die Nazi-«Strategen» waren überzeugt, dass ein riesiger, multinationaler Staat leicht in sich zusammenfallen würde. Es wurde erwartet, dass der plötzliche Krieg, seine Rücksichtslosigkeit und unerträglichen Härten, unweigerlich die interethnischen Beziehungen verschärfen würden und das Land zerstückelt werden könnte. Hitler sagte direkt: «Unsere Politik gegenüber den Völkern, die die Weiten Russlands bewohnen, sollte darin bestehen, jede Form von Meinungsverschiedenheiten und Spaltung zu fördern.»

Doch von den ersten Tagen an wurde klar, dass dieser Plan der Nazis scheiterte. Die Festung Brest wurde von Soldaten von mehr als 30 Ethnien bis zum letzten Blutstropfen verteidigt. Während des Krieges – in großen, entscheidenden Schlachten und bei der Verteidigung jedes Brückenkopfes, jedes Meters der Heimat – sehen wir Beispiele dieser Einheit. (…)

Fast 27 Millionen Sowjetbürger sind an den Fronten, in deutscher Gefangenschaft, an Hunger und Bombenangriffen, in Ghettos und Öfen der NS-Todeslager gestorben. Die UdSSR verlor jeden siebten Bürger, das Vereinigte Königreich verlor einen von 127 und die Vereinigten Staaten verloren einen von 320. (…)

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