Hintergründe

Urlaub bei den Taliban

Urlaub bei den Taliban
Autor Mario Alexander Müller in ortsüblicher Kleidung bei einem Imbiss mit einem kriegsversehrten Begleiter.

Das erste Mal seit Jahrzehnten kann man Afghanistan wieder als Tourist bereisen – und trifft am Hindukusch Flüchtlinge auf Heimaturlaub. Wie sicher ist das Leben im Scharia-Staat? Eine Reportage.

von Mario Alexander Müller

«Was denkst du über die Taliban?», fragt die sanfte Stimme. Auf dem Gesicht ein Lächeln, die braunen Augen strahlen warm. Der Finger aber ruht am Abzug des ungesicherten M16-Sturmgewehrs. «PROPERTY OF U.S. GOVT» ist in das Gehäuse geprägt. First Sergeant Seyfullah trägt die amerikanische Waffe wie eine Trophäe. Drei Jahre lang hat er gegen die Besatzer gekämpft, sich in den Bergen und Tälern des Hindukusch versteckt. Heute ist er Polizist in Kabul.

«Ich denke, ihr habt Sicherheit und Ordnung wiederhergestellt», antworte ich diplomatisch. Seyfullah nickt zufrieden. «Sehr gute Antwort! Willkommen in Afghanistan!»

«Money» und «Fuck you» sind der Grundwortschatz der Straßenkinder.

Solche Gretchenfragen stellen viele Gotteskrieger im schwarzen Kaftan, wenn ein Westler ihren Weg kreuzt. Sie verlangen Fingerspitzengefühl – doch die Antwort war nicht gelogen: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist Afghanistan wieder bereisbar. Noch sind es wenige, die kommen, aber auf Youtube häufen sich Videos von Abenteuerlustigen, die über den Vogelmarkt von Kabul schlendern, in den blauen Seen von Band-e-Amir baden oder durch das Bamiyan-Tal wandern. Die Jahre der Selbstmordanschläge, Raubüberfälle und Entführungen scheinen vorbei.

Mullahs im Flieger

In der afghanischen Diaspora hat sich das längst herumgesprochen. Schon am Transitflughafen Istanbul trifft man auf «deutsche Afghanen». Abdullah aus Hamburg reist mit Frau und Schwiegereltern zur Familienfeier nach Dschalalabad. «Fast wie Süddeutschland – Berge und Grün», schwärmt seine Schwägerin. Kurz vor dem Boarding nach Kabul verschwinden die jungen Frauen im Waschraum, um verschleiert wiederzukommen. «Die Mullahs sitzen schon im Flieger», sagt sie und grinst. Angst? Keine Spur. Seit die «Feinde» weg seien, fahre man wieder jedes Jahr in die Heimat – gemeint sind NATO, ISAF, der Westen.

Auf der Reise begegnet man ihnen immer wieder – diesen «Flüchtlingen» auf Heimaturlaub. Auf Basaren, beim Tretbootfahren im Nationalpark, sogar auf der halsbrecherischen Passstraße über den Hindukusch. «Kommt ihr aus Deutschland?» ruft es aus der Menge der Kaftanträger. Hände werden geschüttelt, Selfies geknipst.
Tatsächlich dürfte Afghanistan heute so sicher sein wie seit dem sowjetischen Einmarsch vor 42 Jahren nicht mehr: In jener fernen Zeit vor den Mudschaheddin, al-Qaida und 9/11, als Hippies in bunten VW-Bussen auf dem Weg nach Indien Station machten, um sich mit exotischen Gewändern und schwarzem Haschisch einzudecken. Doch mit der erneuten Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 ist aus dem einstigen Hippie-Paradies ein strenggläubiges Kalifat geworden.

Urlaub bei den Taliban
Daumen hoch: zwei Afghanen vor einem Fleischerladen in Kabul.

Hoch über dem Smog, der wie ein stickiger Teppich über der Millionenstadt liegt, knattert auf dem Wazir-Akbar-Khan-Hügel die riesige weiße Fahne der Islamisten: «Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet», steht darauf in kalligrafischen Lettern. Zwei Jahrzehnte nach Beginn der Operation Enduring Freedom sind Abermilliarden für den Demokratieexport im Staub des Hindukusch versickert, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Nur die Straßenkinder sprechen jetzt ein paar Brocken Englisch – «Money» und «Fuck you» gehören zu ihrem Grundwortschatz.

Das Gesetz der Scharia

Der Islam hat den Westen besiegt. Und er ist hier nicht nur Glaube, sondern Gesetz. Alkohol, Drogen, Schweinefleisch – verboten. Musik, Tanz, Gesang, Glücksspiel – ebenfalls.

Ein Mann darf bis zu vier Frauen heiraten, was viele junge Männer ohne Aussicht auf eine Familie zurücklässt. In den Straßen Kabuls liegt überschüssiges Testosteron wie eine unsichtbare Spannung in der Luft. Zwar haben die Taliban die pädophile Praxis des Bacha Bazi, jener in Mädchenkleider gesteckten Tanzjungen, die von mächtigen Männern missbraucht werden, offiziell verboten – endgültig ausgerottet ist sie wohl nicht. Auf den Straßen flanieren die neuen Herren Hand in Hand, die Augen mit Kajal betont, das Haar zur Löwenmähne geölt. Edelsteinringe glitzern an den Fingern, Waffen an den Schultern. Nicht selten bekommt Mann Komplimente wie: «You’re beautiful.» So fühlt sich der Reisende in Kabul manchmal wie im Zoo – unklar bleibt nur, wer der Besucher und wer die bestaunte Kreatur ist.

Nachts leuchten Kabuls Straßen wie eine Neuköllner Shisha-Bar.

Für Frauen gelten besonders strenge Regeln. Sie müssen sich verschleiern, viele Berufe sind ihnen verwehrt, Universitäten bleiben tabu. In der Hauptstadt allerdings weht der Wind etwas milder als auf dem Land. Hier dominiert der Hijab statt der Burka, das Gesicht bleibt meist sichtbar – oft kombiniert mit Maske und, nicht selten, High Heels. Ein stiller Trotz unter Stoffschichten? Unklar. Touristen ist es untersagt, Frauen anzusprechen oder gar zu fotografieren – die Argusaugen der Sittenwächter sind überall.

Verbrechen werden mit drakonischen Strafen geahndet: Auspeitschung, Verstümmelung, Tod. Das hat der Straßenkriminalität ein jähes Ende bereitet. Auch die Opium-Süchtigen sind aus dem Stadtbild verschwunden – von der Straße geholt, werden sie in einer ehemaligen US-Basis zum kalten Entzug gezwungen.

Die Afghanen zahlen ihren Preis: Sicherheit gegen Freiheit. Doch viele ziehen das Gesetz der Scharia der Anarchie der letzten Jahrzehnte vor. Und so sucht das gesellschaftliche Leben seine Schlupflöcher: Auf dem Friedhof einer schiitischen Moschee, in der Männer und Frauen gleichermaßen willkommen sind, wird gepicknickt – fast wie in einem europäischen Stadtpark. Später dann, wenn Kabuls Straßen im Neonlicht wie eine Neuköllner Shisha-Bar wirken, strahlen die riesigen Hochzeitspaläste weithin in die Nacht. Zweitausend Gäste pro Brautpaar gelten als normal – die Hochzeiten sind zum geduldeten Partyersatz geworden, Freizeitvergnügen «halal».

Im Tal der großen Buddhas

Auf dem Weg ins zentrale Hochland ziehen Szenen aus einem anderen Jahrhundert am Straßenrand vorbei. Die Vorstädte erinnern an Mittelaltermärkte: Statt Supermärkten gibt es Holzverschläge, Lehmhütten und Container voller Melonen, Mandeln und Safran. Wo anderswo Fabrikhallen stehen, lodern hier Kohleöfen. Schweißer, Holzhändler, Ziegelbrenner gehen ihrem Tagwerk nach. Jenseits der Tore der Hauptstadt archaisches Landleben: Ochsen ziehen Pflüge durch die Felder, Bauern ernten das Korn mit Sicheln, Nomaden führen ihre Herden von Wasserstelle zu Wasserstelle. Je weiter man sich von Kabul entfernt, desto weniger Frauen sieht man im Straßenbild. Wenn doch, sind sie in blauen Burkas mit Sehgittern verborgen.

Urlaub bei den Taliban
Nach dem Sieg über die USA: Ein Taliban mit Maschinengewehr blickt stolz in Richtung Khyber-Pass.

Etwa im Stundentakt tauchen Checkpoints der Taliban auf, an denen Visa und Reisegenehmigungen kontrolliert werden. Bärtige Sandalenkrieger lungern auf amerikanischen Humvees, an denen sie ihre weißen Fahnen mit Aststöcken befestigt haben. Kurz vor der Kontrolle dreht der Fahrer routiniert die Musik ab, nur um das persische Gedudel danach umso lauter aufzudrehen. Meist winken die Wächter nach einem kurzen Blick auf die Papiere freundlich durch. Der Schutz der Touristen ist Staatsräson – schließlich hofft das Islamische Emirat auf diplomatische Anerkennung. Eine Hoffnung, die bislang nur Russland erfüllt hat.

Im grünen Bamiyan-Tal, einst ein Juwel der Seidenstraße, standen die größten Buddha-Statuen der Welt. Anderthalb Jahrtausende blickten ihre mit Edelsteinen verzierten Augen über das Tal, bis die Taliban sie 2001 zum Schrecken der UNESCO sprengten – Götzenbilder sind im Islam verboten. Die ortsansässigen Hazara, Nachfahren der Mongolen, tragen asiatische Züge. Bis heute zeugen die Ruinen der «Stadt der Schreie» und der «Roten Stadt» von der Vernichtungswut Dschingis Khans – sie dürfte die der späteren Islamisten noch übertroffen haben. Dennoch gilt die schiitische Minderheit als vergleichsweise liberal. Ihre Frauen zeigen sich selbstbewusster, das Tuch sitzt lockerer, ab und an sieht man Lippenstift. Hier spürt der Westler am stärksten, dass Afghanistan keine Nation, sondern ein Vielvölkerstaat ist, geprägt von Stämmen und Clans, die nur die Religion eint.

Bärtige Sandalenkrieger lungern auf amerikanischen Humvees.

Von den kolossalen Buddhas ist nichts als Leere geblieben – zwei riesige Nischen in der Felswand. Höhlen, die den Mönchen als Kloster dienten, durchziehen das Gestein wie einen Termitenhügel. Chinesische Gelder haben die Überreste der archäologischen Stätte notdürftig stabilisiert. Es dürften diese Investitionen sein, die die Taliban dazu bewogen haben, Touristen zum Tatort ihrer ikonoklastischen Raserei zu führen. In Begleitung eines bewaffneten Aufsehers darf man die Silhouetten der Buddhas wieder besichtigen.

Der Schwanensee des Kalifats

Nach dem Besuch im Tal zieht es viele Reisende weiter nach Band-e-Amir. Auf 3.000 Metern Höhe schimmern dort sechs natürliche Stauseen in unwirklichem Blau, umrahmt von roten Felswänden, die an den Südwesten der USA erinnern. Bekannt wurde der 2009 eröffnete Nationalpark durch Bilder bewaffneter Taliban, die sich kurz nach der Machtübernahme in bunten Schwanentretbooten vergnügten. Viel hat sich seither nicht geändert: Noch immer tuckern Gotteskrieger im Freizeitmodus über den See. Frauen, die hier eigentlich keinen Zutritt haben, sitzen vereinzelt zwischen Familien auf den Booten. Die Taliban schauen weg – oder tun zumindest so.

Der Weg nach Mazar-e-Scharif, wo die Bundeswehr ihr Feldlager Camp Marmal betrieb, führt über den Hindukusch. Die Straße klemmt sich an den Hang, nur Scheinwerfer schneiden Staub aus der Dunkelheit. Bunt bemalte Lastwagen schleppen sich den Berg hinauf. Zwischen Koranversen und der Hand der Fatima glänzt ein aufgemalter Mercedes-Stern – das ferne Deutschland als Heilsversprechen auf Blech. Viele Autos fahren ohne Kennzeichen, und wenn doch, sind es alte Nummern aus den Ländern, aus denen sie importiert wurden.

Urlaub bei den Taliban
Durchs wilde Afghanistan: Der Autor bei der Überquerung eines Gebirgspasses.

Führerscheine sind überflüssig, zehn bis fünfzehn Personen pro Wagen keine Seltenheit. Bei Unfällen zählt nicht die Versicherung, sondern der Charakter. Manch einer begeht Fahrerflucht – und überlässt Allah die Schadensregulierung im Jenseits. Auch der Weg selbst birgt Gefahren: Steinschläge, abgerutschte Lastwagen, die wie zur Warnung am Hang liegen. Auf knapp 4.000 Metern haben die Russen den Salang-Tunnel durch den Felsen gebohrt – ein klaustrophobischer Schlund, der bei Unfällen, Bränden und Lawinen zahlreiche Leben gekostet hat. Die Taliban bessern das Militärbauwerk aus, so gut sie können. Es mag nach «Autobahn» klingen – doch tatsächlich loben viele Afghanen ihre Herrscher auch für den Straßenbau.

Endlich, nach sechzehn Stunden Fahrt, liegt die flache Ebene von Mazar-e-Scharif in der roten Sonne. Bis zum Horizont zieht sich das Nichts, nur ab und zu traben Kamele am Straßenrand. Weniger Humor als beim Fahren ohne Fahrerlaubnis verstehen die Taliban beim Thema Pornografie: Das Festnetzinternet wurde in der gesamten Region abgeschaltet – «zur Aufrechterhaltung der Sittlichkeit», wie es heißt. In Wahrheit, munkelt man, könnten Machtkämpfe innerhalb der undurchsichtigen Theokratie dahinterstecken.

Über den Hindukusch und zurück

Statt digitaler Welten also das Leben auf der Straße: In den engen Gassen bieten Händler Teppiche, Kleidung und Granatapfelsaft an. Vor den Metzgerläden türmen sich Ziegenköpfe, Därme, Berge von Abfällen. Mitten aus dem Betongrau erhebt sich die Blaue Moschee, wo der Legende nach Mohammeds Schwiegersohn, der Märtyrer Ali, begraben liegt. Über ihren mit türkisfarbenen Kacheln bedeckten Kuppeln und Minaretten kreisen Hunderte weißer Tauben. So friedlich wie die Szenerie anmutet war Mazar nicht immer: Ende der 1990er Jahre massakrierten sich Hazara und Taliban gegenseitig – Tausende fanden in flachen Gräbern ihr Ende.

Über den Flughafen, 2006 von Deutschland modernisiert, soll es schließlich zurück nach Kabul gehen. Kontrollen, Sicherheitsschleusen, müde Sprengstoffhunde, die wohl noch aus Bundeswehrzwingern stammen. Doch ein Sandsturm durchkreuzt den Plan. Die Augen tränen, die Haut spannt, der Flieger aus Kabul dreht kurz nach dem Start wieder ab. Also muss ein Fahrer her, der nachts über den Hindukusch zurückfährt. Der Fixer macht nervös Fotos vom Mann und seinem Wagen, schickt sie zur Sicherheit an seinen Chef. Noch immer sind Überlandfahrten bei Dunkelheit mit bösen Erinnerungen verbunden. Doch die Fahrt ins Ungewisse endet schlaflos, aber wohlbehalten in Kabul – «Alhamdulillah».

Zum Abschluss jeder guten Reise gehören Souvenirs. In der Chicken Street, wo einst NATO-Soldaten und Diplomaten für «echte» Antiquitäten tief in die Tasche griffen, verstauben heute Edelsteine, Pelze und Seidentücher. Aufmerksamkeit ziehen vor allem die «Kriegsteppiche» auf sich – handgewebte Miniaturen des Schreckens: Flugzeuge stürzen in die Twin Towers, kleine Figuren springen in den Tod. Auf anderen: Kalaschnikows, Stinger-Raketen, Opiumfelder. Der Stil geht auf den afghanisch-sowjetischen Krieg zurück, als erstmals Waffen als Ornament auftauchten.

Das Internet wurde abgeschaltet – «zur Aufrechterhaltung der Sittlichkeit».

Abdul Wahab sammelt und handelt mit antiken Teppichen. Wie ein persischer Löwe kämpft er um jeden Kunden: «Wenn du so einen Teppich irgendwo anders findest, schenke ich ihn dir!», ruft er und schleudert das gute Stück quer durch den Raum, in dem sich Auslegware bis unter die Decke stapelt. Der Laden ist ein Familienunternehmen in zweiter Generation, der Vater hat das Geschäft aufgebaut und es damit sogar ins Magazin Time geschafft. Elf Monate lebte Abdul in einem Hamburger Flüchtlingsheim, bis ihm dort so langweilig wurde, dass er den Senior um ein Rückflugticket anflehte.

Wie viele Afghanen auf den kalten Bahnhofsvorplätzen von Hamburg, Berlin oder Köln mögen sich nach dieser staubigen, widersprüchlichen Heimat sehnen? Sicher genug – nur dass der Himmel über Kabul eben doch ein anderer ist.

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