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Mein Russland: Abenteuer Transsibirische Eisenbahn (Teil 2)

Mein Russland: Abenteuer Transsibirische Eisenbahn (Teil 2)
Transsibirische Eisenbahn: 9.308 Kilometer sind es von Moskau nach Wladiwostok

Ich habe die Koffer gepackt und die Stiefel geschnürt und werde von Ende Dezember bis Anfang März für zwei volle Monate aus Russland berichten. Folgen Sie mir auf den Spuren von Dostojewski, Tolstoi, Tschaikowsky und Schostakowitsch nach St. Petersburg, Jalta, Sewastopol, Moskau und bis weit hinter den Ural, nach Wladiwostok, einmal quer über zwei Kontinente hinweg. Mein Reisetagebuch wird mehrmals wöchentlich auf Anonymous News erscheinen und Sie über die kleinen wie großen Begebenheiten und Begegnungen auf meiner Reise informieren.

von Mario Rönsch

Hundert Rubel sind kein Geld, hundert Jahre kein Alter und hundert Kilometer keine Entfernung, sagt ein sibirisches Sprichwort. Die transsibirische Realität sieht anders aus: 9.308 Kilometer sind kein Katzensprung, zwanzig Tage vergehen nicht im Fluge, und für hundert Rubel gibt es heute nicht einmal mehr eine Transsib-Fahrkarte – Russischlektionen einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn. Die klassische Transsib-Strecke führt von Moskau, dem Zentrum russischer Macht, nach Chabarowsk, der „Hauptstadt des Fernen Ostens”, wo die Hauptstrecke der Transsibirischen Eisenbahn am Amur endet, ein paar Tigersprünge von der Grenze zu China entfernt. Eine Nebenstrecke reicht noch weiter bis Wladiwostok an den Pazifik. Kein Russe käme auf den verrückten Gedanken, ohne zwingenden Grund in einen Zug von Moskau nach Ostsibirien zu steigen. Ich schon.

Abfahrt auf Gleis 4 um 00.23 Uhr am Kasaner Kopfbahnhof in Moskau. Menschenmassen an den Gleisen, fliegende Händler. Der Zug misst über einen halben Kilometer, ist grau wie die Uniformen der Schaffnerinnen und fährt ohne Vorwarnung los. Die Transsib-Strecke ist elektrifiziert. Kommunismus, das bedeute Sowjetmacht und Elektrifizierung, hatte Lenin gesagt. In der 3. Klasse, genannt „Platzkarta”, ist der Weg nicht das Ziel. Hier reisen diejenigen, die sich unter Breschnew noch einen Flug leisten konnten, heute zu 50 in einem Waggon, in dem es keine Abteile, sondern nur Liegeplätze gibt. Alles ist offen Jeder sieht, hört und riecht den anderen, Wohnküchen-Atmosphäre inklusive. Ich leiste mir ein wenig Luxus und fahre erster Klasse. Jeder Waggon fasst maximal 18 Reisende, die sich auf neun Zweibett-Abteile verteilen. Die Wände sind mit Holz vertäfelt, rechts und links hängen riesige ovale Spiegel, die das Abteil noch größer erscheinen lassen. Rote Vorhänge und Teppiche runden die gemütliche Atmosphäre ab. Ich habe Glück und das ganze Abteil bis ins 800 Kilometer entfernte Kasan für mich allein. Die Fahrt von Moskau aus kostet rund 6000 Rubel, umgerechnet also erschwingliche 60 Euro.

Mein Russland: Abenteuer Transsibirische Eisenbahn (Teil 2)

Ich ziehe meine schweren Winterschuhe aus und schlüpfe in zwei gemütliche Pantoffeln, die ich in meinem Moskauer Hotel abstauben konnte. Wie ein Waldkauz in seiner Baumhöhle, so richte ich mich in meinem Abteil häuslich ein, und das obwohl ich den Zug in zirka 15 Stunden schon wieder verlassen werde. Vor meiner Abfahrt habe ich einige Köstlichkeiten besorgt und decke zu nächtlicher Stunde, motiviert den Tisch. Darauf findet sich alles was mein kleines Schreiberherz begehrt: Marinierte Oliven, frisch gebackenes, knuspriges Schwarzbrot, italienischer Parmesan und russischer Schokoladenkuchen. Sogar an Besteck und eine Serviette aus Stoff habe ich gedacht. Olga, die freundliche Schaffnerin, deren ledernes Gesicht unverblümt den Eindruck vermittelt, als hätte sie vor geschätzten 50 Jahren, hier im Zug irgendwo das Licht der Welt erblickt, serviert aromatischen Tee. Ich blicke durch das inzwischen fast vollständig vereiste Zugfenster ins Dunkel hinaus. Für einen kurzen Moment scheint diese komplexe, verrückte und mitunter bitterböse Welt, für mich in Ordnung. Ein Gefühl von Ruhe und Frieden erfasst meinen Körper. Als die grellen Lichter Moskaus nach etwa einer Stunde am Horizont verschwunden sind und ich unentwegt immer tiefer in die düstere russische Nacht rausche, erklingen in meinem Kopfhörer die ersten Akkorde von City’s Welthit „Am Fenster“. „Einmal wissen, dieses bleibt für immer!“ Satt, glücklich und zufrieden schlage ich mein Bett auf und kuschele mich in die blütenweiße Decke. Babamm, babamm, babamm. Die gleichmäßigen Schienenstöße des durch die nächtliche Taiga donnernden Schnellzuges wiegen mich sanft in den Schlaf.

Kasan – Märchenstadt am Wolga-Ufer

Es ist kurz vor 10.00 Uhr als mich die ersten Sonnenstrahlen des Tages aus meinem tiefen Schlaf kitzeln. Draußen ziehen Tannen-und Birkenwälder an mir vorbei, Bauerndörfer, jedes Haus aus Holz, ein paar schneebedeckte Felder, Ställe, Sägewerke. Nach der Morgenwäsche am Mini-Waschbecken der Wagon-Toilette und dem damit verbundenen Improvisationsexamen, trete ich vor mein Abteil in den Gang hinaus und starre fast zweieinhalb Stunden lang einfach nur in die Natur. Die wenigen Russen, die in der ersten Klasse mitfahren, hocken in ihren Abteilen, reden, essen, lesen, schlafen, spielen Schach oder machen sich für jedermann hörbar an der Ehefrau zu schaffen. Die Frage, ob ihnen die Gegend gefällt, kapieren sie nicht. Die Landschaft ist einfach da, nichts weiter, Diskussion beendet.

Pünktlich um 13.24 Uhr rollt mein Zug im historischen und aufwendig sanierten Bahnhof von Kasan ein. Es ist kein Zufall, dass diese Stadt zu den beliebtesten Reisezielen in Russland gehört – gleich nach St. Petersburg und Moskau. Nur eine knappe Flugstunde oder wie in meinem Fall 15 Zugstunden von der russischen Hauptstadt entfernt, taucht man hier in eine völlig andere Welt ein. Geschichte und Gegenwart, Islam und Christentum, Europa und Asien, liegen hier ganz nah und friedlich beieinander. Die Fußball-Fans unter den Lesern werden sich schmerzhaft erinnern. In Kasan scheiterte die deutsche Nationalmannschaft erstmals in ihrer Geschichte in der Gruppenphase einer Weltmeisterschaft und unterlag hier in der Ak Bars Arena 0:2 gegen Südkorea.

Nicht nur in Moskau, auch in Kasan gibt es eine Festung, wie in fast jeder größeren russischen Stadt, die Kreml genannt wird. Sie wurde im 16. Jahrhundert durch Iwan den Schrecklichen erobert und umgebaut. Die Zitadelle gehört zum UNESCO-Welterbe und wurde 2005 zu Ehren des Geistlichen und Anführers der Verteidigung von Kasan, Kul-Sharif, benannt. Der Iman fiel 1552 bei der Eroberung durch russische Truppen. Die Moschee ist die zweitgrößte Russlands und eine späte Wiedergutmachung. Tartastan ist reich. Die autonome Teilrepublik besitzt nicht nur riesige Ölvorkommen, sondern auch große Erfahrung darin, wie man trotz der oftmals sehr brutalen Vergangenheit, inzwischen friedlich miteinander lebt. Direkt neben der Kul-Sharif-Moschee steht die orthodoxe Mariä-Verkündigungs-Kathedrale. Beide Gotteshäuser kann man besuchen, und das völlig unabhängig von der eigenen Konfession. Heute wohnen in Kasan genauso viele Tartaren wie Russen. Jede vierte Ehe ist interkulturell.

Geschichte liegt in Kasan überall in der Luft. Als nächstes statte ich dem schiefen Sujumbike-Turm einen Besuch ab, der gerne mit dem in Pisa verglichen wird. Von diesem, soll sich der Legende nach, die letzte Regentin des Kasaner Khanats gestürzt haben, weil sie einer Heirat mit dem ungeliebten russischen Zaren entgehen wollte. Die Turmneigung in Nord-Ost-Richtung beträgt fast 2 Meter. Unter den zahllosen anderen Denkmälern der Stadt ist das 58 Meter hohe Bauwerk aus gebrannten Ziegelsteinen und goldenem Halbmond leicht zu erkennen. Glaubt man den Einheimischen, geht der Wunsch eines jeden in Erfüllung, der diesen Turm mit der Hand berührt. Wünsche habe ich einige. Und so herze ich den Turm fast 10 Minuten lang, bevor ich weiter ziehe.

In den vergangenen 20 Jahren hat sich Kasan stark verändert. Neben alten Prachtbauten gibt es neue, wie den Palast der Ackerbauern, Sitz des Landwirtschaftsministeriums. Der Baum aus Bronze in seinem Zentrum steht für Fruchtbarkeit und Wohlstand. Der Reka-Bulak-Kanal trennt die Stadt in zwei Teile, dem ehemals russischen und dem tatarischen. Im alten tatarischen Viertel scheint die zeit stehen geblieben zu sein. Bunte Holzhäuser prägen das Straßenbild. Auf dem Markt von Kasan entdecke ich neben allerhand Obst und Gemüse auch Ungewöhnliches wie Kömüs, eine Art Kefir aus Stutenmilch. Außerdem Pferdefleisch in allen möglichen Varianten. Ein Händler bietet mir frisch geschlachtetes Fohlen zum Probieren an. Mir sind die genügsamen Vierbeiner mit den großen Kulleraugen und der langen Mähne im Ganzen und vor allem lebendig lieber. Ich lehne dankend ab.

Nach zwei Tagen ist für mich Schluss. Mein Haupt habe ich übrigens im Bilyar Palace gebettet, ein komfortables 4-Sterne-Hotel mit phänomenalen Panoramablick auf die Stadt. Gäste wie ich, die sich nur auf der Durchreise befinden, werden sich hier wohlfühlen – gemütliche, sehr großzügig und modern wie opulent eingerichtete Zimmer, ein Restaurant mit russischer, europäischer und tatarischer Küche sowie Sauna, Jacuzzi und Fitnessraum. Einziges Manko: Das Frühstück – das konnte man sprichwörtlich in die Tonne treten. Kostenfaktor: 4700 russische Rubel respektive 52 Euro pro Nacht.

Um 0.46 Uhr steige ich wieder in die aus Moskau kommende Transsib ein. Einige Stunden später passiert der Zug Perm, einst Ausgangspunkt der Sibirischen Poststraße, die im Sommer über staubige, im Frühjahr und Herbst matschige und im Winter verschneite Wege zu den Verbannungsorten und den Silberminen Ostsibiriens führte. Alles musste damals mit Pferdekraft transportiert werden. 1878 entstand das erste Gleisstück der Westsibirien-Strecke, 381 Kilometer durch den Ural, von Perm nach Jekaterinenburg, von Europa nach Asien. 1891 machte Zarewitsch Nikolaus II. im Pazifikhafen Wladiwostok den ersten Spatenstich zum Bau der Ussuri-Bahn, dem ersten Transsib-Abschnitt im Osten. Der Hunger im europäischen Teil Russlands zwang zur Expansion gen Osten. Etwa 90.000 Menschen – russische Sträflinge, Bauern und Soldaten, ausländische Vertragsarbeiter – schufteten mit Schaufeln, Hacken und Schubkarren in heißen Sommern und eisigen Wintern für das Jahrhundertwerk. 1916 war es vollbracht: Russlands Hauptverkehrsader verband die Oberläufe der von Süd nach Nord verlaufenden großen Flüsse Sibiriens.

Einschließlich der Nebenstrecke Chabarowsk-Wladiwostok wurden es 9.302 Kilometer. 800 Stationen und 200.000 Strommasten passiert die Breitspurbahn. Die Transsib fuhr durch die Geschichte. Während das Volk hungerte, hatten die Waggons der Zarenfamilie Raucherzimmer, Piano-Bar, Friseursalon und Badezimmer. Oft stoppten Schneestürme oder Räuber den Zug. Im Revolutionsjahr 1917 kamen Gold und Plüsch der Romanows unter die Räder, Lenin und später Stalin traten in den Kommandostand. Der Zug transportierte erst den Diktator, dann seine Opfer, später auch deutsche Kriegsgefangene.

Bald muss er kommen. Alle reden nur noch vom „Obelisk“ bei Kilometer 1.777, dem Grenzstein mit der Aufschrift „Europa” auf der einen und „Asien” auf der anderen Seite. Am Bahnhof in Perm werden die Wasserbehälter aufgetankt, Post wird verladen. Die Schaffner haben sich mit Eisenstangen bewaffnet und schlagen gegen die vereisten Zugräder. Klingt das Geräusch hohl, ist alles in Ordnung. Die E-Loks der Baureihe Э5К, die es auf maximal 120 Stundenkilometer bringen, werden bis Wladiwostok vier-bis fünfmal ausgetauscht. Die Lokführer wechseln mehrmals täglich und fahren meist mit dem nächsten Gegenzug wieder heim. Am Nachbargleis steht ein Militärtransport mit Hunderten Soldaten und Armee-Lkws auf den Ladeflächen. Einsatz in der Ukraine, munkelt man.

Der Ural ist wenig bergig, eher ein welliges Hügelmeer. Kurz hinter Perwouralsk werden die Kameras in Anschlag gebracht. Die Transsib rattert mit etwa 80 Sachen am Obelisk vorbei. Asien! In der zweiten Klasse wird der Kontinentwechsel lautstark bejubelt. Ich höre Gejohle und lautes Lachen. Offenbar ist dort eine kleinere Party im Gange. Aus meinem Rucksack ziehe ich eine Flasche französischen Cognac, die ich zu diesem Zweck in Kasan besorgt hatte und beschließe kurzerhand mir einige Freunde zu machen. Einen Waggon später treffe ich auf Aksel, Felix und Emma – dänische Studenten aus Kopenhagen, die den Abschluss ihres Wirtschaftsstudiums mit einer Russland-Reise krönen. Meine Frage, ob in der illusteren Runde noch Platz für einen regimegestressten Deutschen aus dem Nachbarland ist, wird grinsend bejaht. Ich komme mit den dreien ins Gespräch und frage wie sich das bei Ihnen, in diesem politisch aufgeladenen Zeiten, mit der Visa-Erteilung gestaltet hat. Alles easy, unkompliziert und unbürokratisch erwidert Felix, genau wie bei mir. Man darf halt nicht alles glauben, was in Zeitungen steht. Die Frankfurter Rundschau erdreistete sich jüngst erst, zu berichten, man müsse ab sofort einen Treueeid auf Putin schwören, um in Russland einreisen zu können. Dabei handelt es sich um Gossenjournalismus in Reinkultur. Einige Medien in Dänemark berichten wohl ähnlichen Unsinn, erzählt mir Emma. Alles gelogen. Ekelhaft! Das finden auch die anderen. Unsere Tassen sausen ein ersten Mal zusammen. Na zdorov’ye! Zum Wohl! Gesundheit! Neben Cognac steht plötzlich auch Wodka und selbstgebrannter Mariellenschnaps auf dem Tisch. Wir unterhalten uns angeregt. Über Politik, über Russlands Geschichte, über das Studentenleben in Dänemark im Allgemeinen und über diese abgefuckte Welt im Besonderen, über alles halt. Die Überquerung der Kontinentalgrenze betrinken wir geschätzt noch etwa neun, zehn Mal, solange bis alle Flaschen leer sind und plötzlich verschneite Schrebergärten den Bahndamm säumen. Jekatarinenburg naht. Nicht enden wollende Datschendörfer und die ersten Vorstädte erinnern mich daran, dass ich gleich aussteigen muss. Nachdem ich beim Verlassen des Zuges beinah ungebremst ins Gleisbett gepurzelt wäre, beschließe ich, ohne kulturelle Zwischenstopps, auf direkten Wege ins Hotel zu fahren, um dort meinen Rausch auszuschlafen.

Heiligabend in Jekaterinburg

Als ich am nächsten Tag überraschenderweise ohne Kopfschmerzen aufwache und aus dem 8. Stock meines Hotels den Lenin Prospekt hinunterschaue, staune ich nicht schlecht. Väterchen Frost hat die Stadt über Nacht unter einem halben Meter Neuschnee begraben. Das Thermometer zeigt zehn Grad unter Null. Menschen sind nur wenige zu sehen. Das ist gut! Für mich zumindest. Denn ich hasse überlaufene Innenstädte, wie der Teufel das Weihwasser. Ich beschließe kurzerhand irgendwo im Zentrum zu frühstücken und die 1,5 Millionen-Metropole zu Fuß und mit der Straßenbahn zu erkunden. Eine rote Linie „Krasnaja Linija“ weist den Weg zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten quer durch die ganze Stadt. So muss ich mir auf einem Rundkurs von 5,5 Kilometern Länge keine Sorgen um die Navigation machen.

Mein Russland: Abenteuer Transsibirische Eisenbahn (Teil 2)

Für deutsche Verhältnisse ist Jekaterinburg mit seinen knapp 300 Jahren recht jung. Einer der beiden Stadtgründer, Georg Wilhelm Henning, war deutscher Offizier und Kaufmann und seinerzeit in russischen Diensten tätig. Gegründet wurde Jekaterinburg auf Erlass von Zar Peter I., auch Peter der Große genannt, als Fabrikstadt, um die Entwicklung der Metallverarbeitung und die weitere Erschließung des Urals weiter voranzutreiben. Zwischen Deutschland und Russland herrschte über Jahrhunderte hinweg ein reger wirtschaftlicher und kultureller Austausch. Bei einem Blick auf die angespannten deutsch-russischen Beziehungen der letzten Jahrzehnte mag man dies gar nicht glauben. Die Zaren und ihre Regierungen legten die Geschicke des Russischen Reiches immer wieder in die Hände von deutschen Generälen, Ärzten und Wissenschaftlern, darunter auch Frauen. Die beeindruckendste Karriere konnte dabei wohl die in Pommern geborene Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst vorweisen, die erst den späteren russischen Zaren Peter III. heiratete und anschließend sogar selbst den Thron bestieg. Als „Katharina die Große” regierte und reformierte sie das Land 34 Jahre lang und wird von den Russen bis heute wie eine Heilige verehrt. Jekaterinburg ist im Übrigen von Katharina abgeleitet. Allerdings nicht von unserer deutschen Prinzessin, sondern von ihrer Schwiegeroma, Katharina I.

Heute ist Jekaterinburg, wie viele russische Großstädte, sehr modern. Man muss sich nur die Skyline anschauen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Überwindung der Schockstarre in den ersten Jahren danach wird auch hier geklotzt statt gekleckert. Alles, wirklich alles, ist neu gebaut. Gas, Öl, Kohle Eisen, Holz und unzählige weitere Rohstoffe spülen einen nicht enden wollenden Strom an Devisen in die Region. Ab und an entdeckt man zwischen den Wolkenkratzern noch eines der alten, wunderschön verzierten Holzhäuser.

Mein erster Weg führt mich in die Tsarskaya Straße 10, wo vom 17. auf den 18. Juli 1918 in einem dunklem Keller einer Villa das Ende einer Dynastie besiegelt wurde, die in Russland mehr als 300 Jahre lang herrschte. Seit 2003 erhebt sich in Jekatarinburg am Ort des Zaren-Mords ein gewaltiger, zehn Millionen Euro teurer Sakralbau als neues leuchtendes Wahrzeichen der Stadt – die Kathedrale auf dem Blute. Fünf goldene Kuppeln krönen das Gotteshaus aus weißem Stein. Im Inneren erinnern sieben Gedenktafeln an einer Seitenwand im Untergeschoss an Nikolaus II. und seine Familie.

Die Kirche ist an diesem Tag, wahrscheinlich dem Wetter geschuldet, nur mäßig besucht. Ich habe gerade vier Kerzen entzündet und auf einer einfachen Holzbank Platz genommen, versuche irgendwie der wunderschönen und zugleich bedrückenden Atmosphäre habhaft zu werden. Als ein orthodoxer Priester direkt neben mir sein Gebetsbuch aufschlägt und mit tiefer Stimme zu singen beginnt ist sie plötzlich da: Die vielbeschriebene russische Melancholie und sie erschlägt mich mit voller Wucht. In Bruchteilen fliegt mein Leben an mir vorbei, ich muss an meinen 1997 verstorbenen Vater denken, an einen Menschen, den ich vergangenes Jahr auf tragische Weise in Ungarn verloren habe. Dicke Tränen kullern meine Wangen herunter. Als ich wieder zur Besinnung komme, zupft ein kleines Mädchen an meinem Hosenbein und fragt mich auf Russisch, warum ich weine. Ich freue mich, dass ich noch lebe, flüstere ich ihr zu. Es ist die Wahrheit.

Mein Russland: Abenteuer Transsibirische Eisenbahn (Teil 2)

Im Juli 1998 wurden die sterblichen Überreste der Zarenfamilie von Jekaterinburg nach St. Petersburg überführt und dort in Gegenwart des damaligen Präsidenten Boris Jelzin in der „Peter und Paul Kathedrale“ feierlich beigesetzt. Jelzin nannte den Mord an Nikolai II. eine der “schändlichsten Seiten” in der russischen Geschichte. Schuldig seien nicht nur die Täter, sondern auch alle, die diese Untat verschwiegen hätten.

„Man darf sich nicht selbst belügen und sinnlose Grausamkeit durch politische Ziele rechtfertigen“,

mahnte Jelzin. Die Bestattung betrachtete er als „Akt der menschlichen Gerechtigkeit und als „Versuch der heutigen Generation von Russen, ihre Sünden zu büßen“. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Zarenfamilie in einem anderen Licht gesehen. Es ging sogar so weit, dass die orthodoxe Kirche die Zarenfamilie im August 2000 als Märtyrer heilig sprach. Ikonen zeigen Nikolaus II. und seine Angehörigen nun im In- und Ausland in jeder russisch-orthodoxen Kirche.

Am Nachmittag besuche ich das Jelzin-Zentrum. Boris Jelzin, 1931 in Butka (heute Rajon Taliza, Oblast Swerdlowsk) geboren und von 1991 bis 1999 erster Präsident Russlands, genießt bei vielen russischen Bürgern keinen guten Ruf. Im Sommer 2023 stellte der ehemalige US-Offizier William Scott Ritter Junior, der sich in seiner Rolle als Inspektor der Vereinten Nationen für die UNSCOM-Mission im Irak einen Namen machte, nach seiner Russlandreise fest:

„Russland hat – wie jedes Land – seine Probleme. Zunächst einmal ist Russland immer noch dabei, sich aus dem Loch zu befreien, das Boris Jelzin und der kollektive Westen in den 1990er Jahren gegraben haben. Die Folgen dieser katastrophalen Zeit wirken bis heute nach“.

Scott hatte viele russische Städte bis tief nach Sibirien im Rahmen seiner Tournee zu seinem neuen Buch „Disarmament In The Time of Perestroika – Arms Control in The End of The Soviet Union“ (Abrüstung in der Zeit der Perestroika – Rüstungskontrolle am Ende der Sowjetunion) besucht und sich so ein aktuelles Bild von der Situation im Land machen können.

Die Witwe von Boris Jelzin hat ihrem umstrittenen Mann 2015 inmitten der Stadt, eingerahmt von modernster Architektur, ein monumentales Denkmal errichten lassen. Das Jelzin-Zentrum, dem jährlich ein Budget von umgerechnet 12,25 Millionen Euro aus Föderationsgeldern zur Verfügung steht, ist ein Museum mit Kinder- und Bildungseinrichtungen, einer Art-Galerie, einem Kino, einer Bibliothek samt Buchhandlung, einem Restaurant und anderen öffentlichen Einrichtungen.

Boris Jelzin hat die Politik seines Vorgängers, des damaligen KPdSU-Generalsekretärs Michael Gorbatschow (Stichworte „Glasnost“ – Offenheit und „Perestroika“ – Umgestaltung) nicht weiter umgesetzt. Stattdessen hat er mit Hilfe bereitwilliger Profiteure Russlands Tafelsilber an den Westen verscherbelt. Große Staatsfirmen, vor allem aus dem Rohstoffsektor wurden mit Zustimmung Jelzins für billiges Geld an findige Geschäftsleute verkauft, die als Oligarchen zweifelhafte Berühmtheit erlangten – unter anderen Michail Borissowitsch Chodorkowski, russischer Unternehmer, früherer Oligarch und ehemaliger Vorstandsvorsitzender des heute insolventen Ölkonzerns Yukos.

Den Architekten des Jelzin-Zentrums ist es zumindest gelungen, die zwei Prinzipien von Offenheit und Freiheit im Konzept einer lebendigen, durchlöcherten Fassadenhaut, die erst in der Nacht zur vollen Erscheinung kommt, zu versinnbildlichen. Es ist ein neuer Ort entstanden für die Interaktion zwischen den Besuchern des Museums und der Medienfassade.

Beeindruckt betritt man den Innenraum. Hier ist die Staatskarosse Jelzins der Besuchermagnet. Weiter geht es in einen Filmraum. Hier wird im Zeitraffer mit modernsten Stilmitteln die tausendjährige Geschichte Russlands aufgezeigt. Gewaltherrscher folgt auf Gewaltherrscher, jeder legt Russland immer enger „in Ketten“.

Als Übergang zum Ersten Weltkrieg dient ein Bild des deutschen Kaisers Wilhelm II. Dem unkundigen Betrachter wird damit suggeriert, dass der deutsche Kaiser Urheber des Ersten Weltkriegs sei. Zur Erinnerung: Deutschland erklärte am 1. August 1914 Russland den Krieg, nachdem Russland seine Armee mobilisiert hatte. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte den Zaren Nikolaus II. vorher verzweifelt darum gebeten, die russische Mobilmachung zurückzunehmen. Am 1. August 1914 hatte Russland bereits an der Ostgrenze von Ostpreußen die Armee Rennenkampff und an der Südflanke Ostpreußens die Armee Samsonow in Stellung gebracht. Am 1. August 1914 nahmen beide Armeen ihre Aufklärungstätigkeit in Ostpreußen auf.

Am Ende dieses geschichtsverfälschenden FIlms erscheint die Reihe aller vorangegangener Herrscher in schwarz-weiß, während am Ende ein übergroßer Jelzin in Farbe ersteht: Jelzin als der Mann, der Russland die Liberalität brachte, das Jelzin-Zentrum als Insel der Freiheit. Weiter kann ein Personenkult nicht getrieben werden. Die Besucher werden danach auf eine weitere Zeitreise mitgenommen – räumlich und akustisch: In einem nachgestellten sowjetischen Wohnzimmer aus dem Jahr 1991 tanzen im Fernseher Ballerinas „Schwanensee“. Ab und zu wird die Ausstrahlung von der ruhigen Stimme der Nachrichtensprecher unterbrochen, die berichten, dass Michail Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen seine Aufgaben als Präsident der Sowjetunion nicht mehr wahrnehmen könne. Aus der anderen Ecke des Zimmers tönt das russischsprachige Programm von Radio Liberty.

Da erinnert nichts mehr an die russische Verfassungskrise vom 21. September 1993, als der russische Präsident Boris Jelzin per Dekret den gesetzgebenden Kongress der Volksdeputierten sowie den Obersten Sowjet Russlands auflöste. In der Folge ließ Jelzin in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 1993 die oberen Geschosse des 119 Meter hohen Parlaments von Panzern beschießen; das Gebäude geriet daraufhin in Brand. Die Jelzin-Gegner flohen und gaben den offenen Widerstand auf – insgesamt gab es 100 Tote. Im Dezember 1993 ließ er in einem Referendum über eine stark auf den Präsidenten ausgerichtete neue Verfassung abstimmen, die seine Macht festigte und ausbaute. Der Westen stützte ihn im Glauben, die Alternative sei schlimmer. Zum Schluss findet sich der Besucher im echten Kreml-Büro von Jelzin wieder. Dort wird seine Ansprache vom 31. Dezember 1999 ausgestrahlt:

„Ich bitte um Vergebung, dass Hoffnungen von Menschen nicht erfüllt wurden, die daran glaubten, dass wir schlagartig aus dem grauen totalitären Stillstand der Vergangenheit in die lichte, reiche und zivilisierte Zukunft springen können. Ich habe selbst daran geglaubt“.

In Russland beginnt nun die Zeit von Wladimir Putin, dem Jelzin die Macht übergeben hat. Mitte August 1999 hatten sich Berichte über kriminelle Machenschaften hochrangiger russischer Politiker und Banker gehäuft, wovon auch der Jelzin-Clan betroffen war. Ende August 1999 konstatierte Ex-Premier Sergej Stepaschin, dass Jelzin und seine Umgebung in der politischen Landschaft Russlands ziemlich isoliert dastehen. „Sie müssen sich ernsthaft nach einer politischen Kraft umsehen, die noch Sympathien für sie hegt“, sagte er. Wenn sich die Public Relations der “Familie” weiter so entwickle, drohen dem Präsidenten alle Fälle davon zu schwimmen – nicht nur die Sympathien, sondern auch die im September fällige nächste Rate des IWF-Kredits. Sollten diese Vorgänge den Rücktritt Jelzins beschleunigt haben?

Das Jelzin-Zentrum polarisiert. Im Gästebuch loben es einige als das beste Museum Russlands, andere beschimpfen es als Schande. Und in einem Eintrag heißt es, Jelzin habe sich während seiner Regierungszeit mit Leuten umgeben, die Russland vor den USA und Europa auf die Knie gezwungen hätten. Jetzt würden sie das Jelzin-Zentrum nutzen, um ihre Reihen mit jungen Leuten aufzufüllen, welche die Macht im Land ergreifen und sich weiter in die Dienste der USA und Europas stellen wollten. Konservative sammeln Unterschriften dafür, dass das Museum für Propaganda des liberalen Faschismus geschlossen wird.

Festzustellen ist, dass die USA mit ihren Nichtregierungsorganisationen in der Jelzin-Ära starken Einfluss auf eine Westorientierung der Jugend genommen haben. War früher deutsch die erste Fremdsprache, so ist es nun englisch geworden. Ebenso beliebt ist Basketball und amerikanische Musik, die rund um die Uhr in den Hotels und Restaurants meist westlicher Ketten gespielt wird.

Ich lasse den Tag bei einem ausgiebigen Spaziergang ausklingen und ziehe durch die weihnachtlich geschmückte Innenstadt. Von westlichen Sanktionen ist hier nichts, aber auch gar nichts zu spüren. Die Geschäfte und riesigen Konsumtempel sind prall gefüllt. Abgesehen von westlichen Produkten, kann man hier alles, wirklich alles bekommen, was das Herz begehrt. Wie kreativ und mitunter geschäftstüchtig in Russland mit Sanktionen umgegangen wird, bemerke ich, als mein Eau de Parfum zur Neige geht und ich Ausschau nach Ersatz halte. Pech gehabt! Das Produkt einer international bekannten Modemarke steht tatsächlich auf irgendeiner Sanktionsliste. Ich entdecke eine Parfümerie mit geschätzt fünf Dutzend Apothekerflaschen im Schaufenster, in denen sich feinste Duftöle und Essenzen aus aller Herren Länder befinden. Ich beschreibe der Verkäuferin mein Problem. Sie lächelt mich an und meint, das haben wir gleich. Sie schnappt sich einige Flaschen aus der Auslage und kreiert vor meinen Augen binnen weniger Minuten den Duft nach. Kopfnote, Herznote und Basisnote, Zack und fertig. Hier, riechen Sie mal! Als ich die ersten Stöße aus dem Flakon jage und meine Nase spitze, bin ich begeistert. Entzückt bin ich auch über den Preis. 4500 russische Rubel, also 45 Euro. Das ist Hälfte des West-Produkts. Im Flakon befindet sich zu meiner großen Freude auch noch die doppelte Menge.

Als ich das Geschäft verlasse und auf die schneebedeckte Vaynera Straße trete, fällt mir die Kinnlade herunter. Die Stadtverwaltung hat über der größten Einkaufsmeile von Jekaterinburg einen kilometerlangen LED-Himmel spannen lassen und lässt darauf in den Abendstunden, nach Einbruch der Dunkelheit, wunderschöne Lichtprojektionen und dazu passende Musik abspielen. Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. An jeder Ecke begegnen mir fröhliche und gut gelaunte Menschen. So sieht es also im Inneren eines Landes aus, dass vom Westen mit mehr als 12.000 Sanktionen belegt wurde. Interessant!

Über den Autor

Mario Rönsch, Jahrgang 1983, studierte Bankbetriebswirtschaft und ist Chefredakteur von AnonymousNews. Er gründete 2011 das bundesweit bekannte Anonymous Kollektiv und war 2014 Initiator der neuen Montagsdemos. Er arbeite für den KOPP-Verlag und in leitender Position für das COMPACT-Magazin. Er gilt als ausgewiesener Osteuropa-Kenner: Als Autor und Publizist lebte er viele Jahre in Budapest, Prag und Karlsbad und spricht mehrere Sprachen. Seit 2024 berichtet er aus Russland.

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