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Mein Russland: Liebesgrüße aus Moskau (Teil 1)

Mein Russland: Liebesgrüße aus Moskau (Teil 1)
Moskau im Winter: Die weltbekannte Basilius-Kathedrale und die roten Mauern des Kremls

Ich habe die Koffer gepackt und die Stiefel geschnürt und werde von Ende Dezember bis Anfang März für zwei volle Monate aus Russland berichten. Folgen Sie mir auf den Spuren von Dostojewski, Tolstoi, Tschaikowsky und Schostakowitsch nach St. Petersburg, Jalta, Sewastopol, Moskau und bis weit hinter den Ural, nach Wladiwostok, einmal quer über zwei Kontinente hinweg. Mein Reisetagebuch wird mehrmals wöchentlich auf Anonymous News erscheinen und Sie über die kleinen wie großen Begebenheiten und Begegnungen auf meiner Reise informieren.

von Mario Rönsch

Russland – in dieses Land war ich bereits verliebt, noch bevor ich das erste Mal dort war. Der Roman „So weit die Füße tragen“ von Josef Martin Bauer, der die Flucht des deutschen Kriegsgefangenen Clemens Forell vom Ostkap Sibiriens zurück nach Hause erzählt, weckte in mir nicht nur tiefe Sehnsüchte, sondern gleichermaßen eine Faszination, die bis heute anhält. Das Buch war einer der wesentlichen Gründe für mich, Russisch als Wahlfach zu belegen und sechs Jahre lang Schrift und Sprache zu lernen.

Das Jahr 2023 verlief für mich nicht wirklich optimal. Manchmal passieren eben Dinge im Leben, die einen bis auf die Grundmauern erschüttern. Dinge, die geeignet sind ein Menschenleben zu beenden. In einer solchen Situationen ist es wichtig einen kühlen Kopf zu bewahren und die Nerven zu behalten. Beides ist mir glücklicherweise gelungen. Anfang November reift in mir schließlich der Gedanke über mehrere Monate hinweg Russland zu bereisen, um doch noch irgendwie einen versöhnlichen Jahresabschluss zu finden. Auf der Internetseite des Auswärtigen Amts lese ich zu diesem Zeitpunkt folgendes:

„Von Reisen in die Russische Föderation wird abgeraten! In der Russischen Föderation besteht auch für deutsche Staatsangehörige und Menschen mit deutsch-russischer Doppelstaatsbürgerschaft die Gefahr willkürlicher Festnahmen. Die Stadt Moskau und das südliche Umland waren in den letzten Wochen mehrfach Ziel von Drohnenangriffen. Diese haben bisher begrenzte Sachschäden verursacht. Weitere Angriffe können nicht ausgeschlossen werden. Gleiches gilt für mögliche Angriffe auf das öffentliche Verkehrsnetz, insbesondere den Zugverkehr.“

Das hört sich gewohnt dramatisch an, wird mich jedoch nicht davon abhalten, meine Reise anzutreten. Mein Entschluss steht fest. Ich plündere mein Sparschwein, besorge mir ein Visum und kaufe ein Flugticket nach Moskau. Mitte Dezember ist es schließlich soweit. Ich verabschiede ich mich von meinen Freunden und meiner Familie.

Als ich Bahnhof stehe und auf den Zug warte, der mich zum Flughafen Berlin-Brandenburg bringen wird, habe ich nicht viel dabei: Einen Koffer, meinen Klapprechner und das gute Gefühl, dass richtige zu tun. Neben mir auf dem Bahnsteig steht eine Frau mittleren Alters, orange gefärbte Haare, schwarze Hornbrille, Typ Sozialarbeiterin. Ich staune nicht schlecht, als die Dame ihren Rucksack öffnet und eine quadratische Aluminumdose herausgekramt. Aus ihrer linken Hosentasche holt sie einen Schlüssel und öffnet das Behältnis. Daraus entnimmt sie eine Käsestulle und beißt genüsslich hinein. Hat sie das gerade wirklich gemacht? Als normal denkender Mensch möchte man an manchen Tagen einfach nur noch lachend in eine Kreissäge rennen. Das ist völlig verrückt, Deutschland ist verrückt, ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung ist es ebenfalls. Wir haben keine funktionierenden Grenzen, keine Schlagbäume und keine Personenkontrollen, aber Mitbürger, die mit abschließbaren Brotdosen in der Gegend herum laufen. Das Bio-Käsebrot könnte immerhin gestohlen werden oder – schlimmer noch – auf die Idee kommen, selbstständig davonzulaufen. Ich muss hier weg! Meine Vorfreude auf Russland und normale Menschen, steigt in diesem Moment schier ins Unermessliche.

Zwei Stunden später betrete ich das Terminal 1 des Berliner Panen-Flughafens BER und checke in die Nachmittagsmaschine nach Tiflis ein. Bevor ich meine Habseligkeiten jedoch von jeder Seite durchleuchten lassen darf, muss ich warten. Eine knappe Stunde stehe ich in der Schlange zur Sicherheitskontrolle am angeblich “modernsten Flughafen Deutschlands”. Neben jeder Menge hektisch fotografierender Touristen aus Japan und einer augenscheinlich sturzbetrunkenen weiblichen Kegelgruppe aus Österreich, springt mir sofort ein überaus korpulenter Sicherheitsmitarbeiter am Ganzkörperscanner ins Auge, der besonders weltoffen wirken möchte und Passagiere nach ihren Herkunftsländern befragt: „Ooooh, you are from France? I was in Paris, five years ago. It’s realy nice there“. Und außerdem gefährlich, überteuert, dreckig und bestialisch stinkend, möchte man hinzufügen. Ich habe keine Lust auf derartigen Small Talk. Als ich an der Reihe bin, erlaube ich mir den Spaß und sage für jedermann gut hörbar “Deutsches Reich”. Dabei gebe ich mir Mühe, dass “R” besonders schön zu rollen, genauso wie man es klischeehaft vom Schnurrbart erwartet hätte. Ach du große Scheiße, entweicht es dem eben noch so quietschvergnügten Herren an der Schleuse, dessen Stimmung sich gerade winkend Richtung Keller verabschiedet hat. Mich starren verdutzte, garstige Hauptstadt-Gesichter an. Ich genieße den Moment und ziehe verschmitzt lächelnd von dannen.

Persona non grata in Georgien

Meine Maschine hebt pünktlich ab. Um 20.50 Uhr Ortszeit lande ich Georgiens Hauptstadt Tiflis. Ich habe im Stadtzentrum für eine Nacht ein Hotel gebucht und will am nächsten Vormittag nach Moskau weiterfliegen. Das zumindest, hatte ich vor. Bei der Passkontrolle werde ich argwöhnisch und arrogant von zwei georgischen Grenzpolizisten gemustert, die sichtbar erhöht in einer mit Panzerglas gesicherten Box sitzen. Die beiden schauen an mit herunter, als wäre ich gerade irgendwo ausgebrochen. Die Szenerie hat den Anschein, als hätte man mich erwartet. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Nach einer viertel Stunde sagt man mir, ich müsse warten, bis irgendeine Sicherheitsüberprüfung abgeschlossen ist. Ich warte – 15 Minuten, 30 Minuten, 45 Minuten. Nach etwa einer Stunde frage ich höflich nach, ob es ein Problem gibt. Aus einem verqualmten Hinterzimmer kommt plötzlich der Schichtleiter zu mir herüber gewatschelt. Er drückt mir einen Zettel des georgischen Innenministeriums in die Hand und macht mir klar, dass man mich nicht einreisen lässt. Er sieht sich zunächst außer Stande mir weitere Informationen über den Vorgang zu geben. „Befehl von oben!“, nuschelt er in seinen schwarzen, buschigen, aber sehr gepflegten Vollbart, teilt mir dann aber freundlicherweise doch noch mit, dass meine Personendaten von deutschen Behörden mit einer “Red Notice” versehen worden sind.

Ich zucke innerlich zusammen, lass mir aber nichts anmerken. Denn sogenannte “Red Notices” werden bei INTERPOL eigentlich dazu genutzt, um weltweit nach Personen zu fahnden, die per Haftbefehl gesucht werden. Ich frage nach, ob ich verhaftet sei. Nein, erwidert der Chef der Grenzpolizisten, sind Sie nicht. Sie können sich am Flughafen frei bewegen. Sie dürfen diesen eben nur nicht verlassen und nach Georgien einreisen. Um das sicherzustellen, werde ich einen Beamten abstellen, der Sie bis zu ihren Abflug morgen Vormittag nach Moskau, hier am Flughafen, rund um die Uhr begleiten wird.

Mein erster Gang mit Eduard, so heißt mein Schatten, führt mich in ein Restaurant im der Transitzone. Ich entscheide mich für Pasta und einen trockenen Rotwein. Einen Moment bitte! Ich muss erst mit meinen Boss sprechen, ob Alkohol okay ist. Er holt sein Diensttelefon aus der Hemdtasche und tätigt einen Anruf: Ah, mhmm, oooh, ich verstehe! Er legt auf und meint, Alkohol ist nicht okay. Kumpel, sage ich freundlich, dein Chef hat mit vorhin versichert, dass ich hier am Flughafen tun und lassen kann was ich möchte. Darfst du auch, nur eben nüchtern. Schade, ich hatte eigentlich vor, mich hier zu betrinken und euren hübschen, kleinen Flughafen in Schutt und Asche zu legen, erwidere ich sarkastisch. Wir müssen beide lachen. Dann eben ein Wasser. Während ich esse, recherchiere ich ein wenig. Auf der Internetseite einer international tätigen Rechtsanwaltskanzlei lese ich folgendes:

„In der Vergangenheit wurde Interpols System der Red Notices wiederholt zu politischen Zwecken missbraucht, um unerwünschte Personen wie Oppositionspolitiker, Regimekritiker und Menschenrechtsverteidiger zu schikanieren und zum Schweigen zu bringen. Auffallend ist dabei, dass diese missbräuchlichen Praktiken häufig von denselben Mitgliedstaaten angewendet werden.“

Ich frage Eduard, ob es eigentlich normal sei, dass man Personen mit einer “Red Notice” weiterfliegen lässt. Er verneint. “Red Notice” bedeutet sofortige Festnahme und Überstellung. Zu deiner Person existiert allerdings weder ein Haftbefehl noch ein konkreter Fahndungsaufruf. Es gibt nur diesen INTERPOL-Vermerk, den wir allerdings weder öffnen noch lesen können. Deine Daten sind gesperrt. Ich sehe so etwas zum ersten Mal und ich arbeite seit fast 15 Jahren als Polizist hier am Flughafen. Das ist mehr als ungewöhnlich. Mir reicht das als Information. Ich habe keine weiteren Fragen.

Mir wird in diesem Moment wieder einmal bewusst, dass ich kein gewöhnlicher Journalist bin, sondern der Chefredakteur von Anonymous News, einem der ältesten, regierungskritischen und reichweitenstärksten alternativen Medien im deutschsprachigen Raum. Ich kann nicht vieles sonderlich gut, Schreiben gehört glücklicherweise nicht dazu. Ich liebe meine Arbeit, verrichte diese jeden Tag mit Leidenschaft und vor allem bin ich Stolz auf das was ich tue. Das genügt heutzutage offenbar um auf irgendeiner schwarzen Liste zu landen und missbräuchlich ohne Rechtsgrundlage über das INTERPOL-System sogar im Ausland drangsaliert zu werden. Aber sei’s drum. Ich wollte Georgien nicht bereisen, sondern hier lediglich nächtigen. Derartige Vorkommnisse sind ärgerlich, muss man aber sportlich nehmen. Denn nur wer den Ball hat, wird angegriffen.

Die restliche Nacht verbringe ich in einer fensterlosen Unterkunft der georgischen Grenzpolizei. Der Radiator lässt sich nicht regulieren und das Thermometer zeigt kuschelige 31,5 Grad. An Schlaf ist nicht wirklich zu denken. Aus meinem Koffer ziehe ich den Roman “Der Lauf der Liebe” des britisch-schweizerischen Schriftstellers und Philosophen Alain de Botton und beginne zu lesen.

Es ist 10.30 Uhr am Morgen, als ein bulliger und ziemlich grimmig dreinschauender georgischer Grenzpolizist mit zwei Männern in Zivil auftaucht, die meinem Lesefluss abrupt ein Ende setzen. Letztere weißen sich als Mitarbeiter des georgischen Geheimdienstes GIS aus. Wir bringen Sie jetzt zum Flugzeug, heißt es lapidar. Bevor ich die Gangway entlang gehen und in die Maschine nach Moskau steigen darf, werde dazu genötigt, den zwei Schlapphüten mein Mobiltelefon auszuhändigen. Einer von beiden wählt damit irgendeine georgische Telefonnummer, ohne aber mit jemanden zu sprechen. Kommentarlos gibt er mir mein Telefon zurück und wünscht mir einen guten Flug. Kurz nach 11.00 Uhr hebe ich ab. Nachdem wir die Reiseflughöhe erreicht haben, entferne ich die SIM-Karten aus meinem Telefon, lösche sämtliche Daten, schalte das Gerät aus und stecke es, in der Gepäckablage direkt über meinen Sitz, einem Mitreisenden in die Jackentasche. Das habe ich mal in einem Agentenfilm gesehen. Das ist cool. Das ist wild. Und eigentlich wollte ich so etwas immer schon mal machen.

„Herzlich Willkommen in Russland!“

Kurz nach 14.00 Uhr Ortszeit setzt meine Maschine sanft auf der Landebahn in Moskau-Wnukowo auf, dem drittgrößten und ältesten internationalen Verkehrsflughafen der russischen Hauptstadt. Ich bin einer der ersten Passagiere an der Passkontrolle. Mir gegenüber sitzt ein junger russischer Grenzer mit kurz geschorenen Haaren und strahlend weißen Zähnen. Er zieht meinen Pass durch ein Lesegerät und starrt mit prüfenden Blick auf seinen Computerbildschirm. Er wendet den Kopf zu mir, lächelt mich an und sagt: „Alles in Ordnung! Herzlich Willkommen in Russland, Herr Rönsch“. Er drückt auf einem Knopf und öffnet die Schiebetür zur Empfangshalle. Ich kann es noch gar nicht richtig glauben, aber ich bin nach so langer Zeit endlich wieder da. Ich bin Moskau.

Noch im Flughafen tausche ich 100 Euro zu einem sehr fairen Kurs von 1 zu 93. Als ich das Empfangsgebäude verlasse schneit es, ein eisiger Wind weht mir beharrlich ins Gesicht, das Thermometer zeigt sechs Grad unter Null. Die Fahrt mit dem Taxi in die 34 Kilometer entfernte Moskauer Innenstadt dauert rund eine Stunde und kostet gerade mal 2100 Rubel (ca. 21,50 Euro).

Die Sonne ist bereits untergegangen, als ich am späten Nachmittag meine Unterkunft erreiche. Ich habe rechtzeitig gebucht und schlafe für vergleichsweise günstige 80 Euro pro Nacht im DoubleTree Moskau-Marina, einem durch und durch charmanten, detailverliebten Hotel, welches ich all jenen, die es mir gleichtun möchten, mit gutem Gewissen weiterempfehlen kann. Es ist das Vorzeigeprojekt der Hilton Hotel-Kette in der russischen Hauptstadt und liegt direkt an der Leningrader Chaussee, der Hauptverkehrsader Moskaus, die den Flughafen Scheremetjewo mit dem Stadtzentrum verbindet. Viele bekannte Sehenswürdigkeiten sind in unmittelbarer Nähe. Zum Hotel gehört auch ein malerischer Park mit jahrhundertealten Bäumen, der im Winter und Sommer gleichermaßen zum verweilen und flanieren einlädt. Direkt daran angrenzend: Der Moskauer Yachthafen. Bei der Ankunft erhält jeder Gast einen riesigen, warmen Schokoladenkeks in die Hand gedrückt, was mir breites Lächeln ins Gesicht zaubert. Positiv zu erwähnen ist auch das Frühstück. Ich bin sehr viel unterwegs und schlafe dementsprechend oft in Hotels, habe allerdings selten so gut gefrühstückt wie hier. Chapeau!

„Nach Moskau! Nach Moskau!“ riefen schon Anton Tschechows „Drei Schwestern“, und so ist Russlands Metropole mit 12 Millionen Einwohnern heute Europas bevölkerungsreichste Stadt. Wer glaubt, Berlin hätte in den letzten drei Jahrzehnten die dramatischste Veränderung auf dem Kontinent erlebt, der war noch nie in russischen Hauptstadt! Und genau das fasziniert mich bis heute an dieser oft so rauen Millionenmetropole, die nur wenig Zugeständnisse an Besucher macht.

Meine ersten Wege sind nicht touristischer, sondern organisatorischer Natur. Nach meiner unfreiwilligen Liaison mit dem georgischen Geheimdienst in Tiflis, besorge ich mir zunächst ein neues Mobiltelefon mitsamt einer neuen SIM-Karte bei einem der großen russischen Mobilfunkanbieter und eröffne außerdem ein Bankkonto bei einer russischen Bank, da ich die Reisekasse nicht über tausende Kilometer hinweg mit mir durchs Land buckeln möchte. Beides empfehle ich übrigens allen Russland-Besuchern, die länger als eine Woche im Land verweilen. Und beides erhält man problemlos unter Vorlage seines Visums. Sehr erfreulich: Die Bankkarte können Sie bei Kontoeröffnung sofort mitnehmen und benutzen. Jeder noch so kleine Hinterhof-Kiosk besitzt ein Kartenlesegerät des russischen Zahlungssystems MIR (russisch Мир, ˈmʲir; lit. Welt; Frieden). Genauso verhält es sich mit der SIM-Karte. Rein damit ins Handy und Sie können augenblicklich lostelefonieren. Je nach Tarif und Anbieter erhalten Sie bereits für 500 bis 1000 russische Rubel (ca. 5 bis 10 Euro) monatlich ein unbegrenztes Datenvolumen und mehrere hundert Freiminuten gratis.

Здравствуйте!

Als nicht Russisch sprechender Russland-Besucher steckt man bereits von Anbeginn an im ersten, gar nicht mal so kleinen Schlamassel. Denn so gut wie alles ist hier nur auf Kyrillisch beschriftet, und so heißt es vor der Reise fleißig Buchstaben memorieren, damit Sie nicht bei der ersten Fahrt mit der Metro Eingang und Ausgang verwechseln.

Nachdem ich das organisatorische Übel erledigt habe, schlendere ich zum Cafe Pushkin und genieße die wohl beste heiße Schokolade der Stadt. Von dort aus sind es gemütliche 30-40 Gehminuten zur Fußgängerbrücke, die zur mächtigen Christi-Erlöser-Kirche führt. Von hier bietet sich in den Morgenstunden ein hektikfreier Milliarden-Rubel-Blick auf die rot besternten Türme und die goldenen Kuppeln des illuminierten Kreml. Auch der Rote Platz ist morgens noch meist menschenleer. Es lohnt sich abends wiederzukommen, denn die Stadtverwaltung findet ständig neue Gründe, um den Kreml in magische Lichtspiele zu tauchen.

Mein Russland: Liebesgrüße aus Moskau (Teil 1)
Moskau: U-Bahnhof Majakowskaja

Auch für die prunkvollen Metrostationen ist frühmorgens die beste Zeit, denn später im Berufsverkehr, zeigen sich gestresste Moskowiter gerne mal von ihrer ruppigsten Seite. Da wird geschubst und gedrängelt, und eine lächelnde Entschuldigung mit einem misstrauischen Blick quittiert. Doch um 5.00 Uhr kann es durchaus gelingen die Majakowskaja fast ohne Passagiere zu genießen. Für mich die schönste Metro-Station der Welt. Dabei ist ihre zeitlose Eleganz in schlimmsten Stalin-Zeiten entstanden.

Der politische Wind weht derzeit nicht mehr ganz so rau in Moskau. Die alten Sowjetzeiten will hier niemand zurück, aber noch heute demonstriert das Museum für Kosmonautik mit seinem kühnen Raketenschweif die Höhenflüge der zerfallenen UDSSR. Deren politische Helden – aus Stein gehauen und in Bronze gegossen – dämmern inzwischen im Skulpturenpark neben der neuen Galeria Trietiakowska vor sich hin. Hier hängen die atemberaubenden Werke der russischen Avantgarde, der Stalins Kunstgeschmack bald die Luft zum atmen nahm.

Die Kontraste in Moskau lassen sich oftmals kaum in Worte fassen. Zwischen der berüchtigten Lubjanka, Zentrale und Gefängnis des russischen Geheimdienstes, und den luxuriösen Einkaufspassagen wie dem legendären Warenhaus GUM, in denen unfassbar schöne Frauen das Geld ihrer reichen Freunde ausgeben, liegen nur wenige Meter. Von den schwindelerregenden Sky-Bars der Stadt blickt man auf eine Metropole, die nach Sonnenuntergang, zur unangefochtenen Lichterstadt Europas mutiert.

Warum sind die Kreml-Sterne rot?

Der erste Stern wurde am 25. Oktober 1935 als Symbol der Sowjetunion auf der Spitze des Erlöserturms angebracht, weitere vier folgten. Sie ersetzten die riesigen doppelköpfigen Adler des zaristischen Wappens. 1937 wichen die Sterne aus Stahl solchen aus rubinfarbenem Glas mit Stahlgerüst.

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Moskau: Kreml-Sterne

Obwohl sie jeweils etwa eine Tonne wiegen, drehen sie sich mit dem Wind und können den schlimmsten Orkanen trotzen. Sie werden von innen beleuchtet, und zwar so raffiniert, dass sie ihr strahlendes Rot weder im Sonnenlicht noch in finsterer Nacht einbüßen.

Stalins geheime Metro-Line

1992 veröffentlichte das Magazin Junost den Roman „Preispodnjaja“ (Abgrund) von Wladimir Gonik. Er spielt in einem unterirdischen Bunker und berichtet, dass Stalin ein geheimes zweites Metro-System bauen ließ, dessen vier Linien parallel zur öffentlichen Metro unter der Erde verlaufen und das noch immer vom Geheimdienst und dem russischen Verteidigungsministerium betrieben wird. Einige „Höhlenforscher“ in Moskau behaupten, Zugänge gefunden zu haben, doch fotografische Beweise gibt es bis dato keine. Allerdings haben in der Glasnost-Zeit Offizielle die Existenz des der Geister-U-Bahn bestätigt, das Mitgliedern des Politbüros bei einem Atomkrieg als Bunker- und Fluchtmöglichkeit gedient hätte. Die inoffizielle militärische Evakuierungslinie von der Lubjanka zum Regierungsflughafen Wnukowo existiert jedenfalls tatsächlich.

Freibier in Moskau?

In einer legendären TV-Episode aus „Fast wia im richtigen Leben“ nahm der bayrische Humorist Gerhard Polt 1983 eine Fahrt bayrischer Trachtler „zum Russn“ aufs Korn. Auf dem Lenin-Hügel unter den Augen der überrumpelten Moskauer Miliz schenken sie ungenehmigt „das revolutionärste Freibier auf der ganzen Welt“ aus. Monate später kommt der „Bürgermeister von Moskau“ zum Gegenbesuch in die bayrische Gemeinde, wo er sich am Stammtisch beim Schafkopfen bewähren muss. Die Sache ist aber wirklich so passiert, denn im Oktober 1980 vollbrachten die Denkendorfer Trachtler dieses schlitzohrige Kabinettstückchen und eroberten mit bayerischer Volksmusik und Schuhplattler die Moskauer Herzen im Sturm. Bis heute pflegen Denkendorf und der Moskauer Stadtteil Krasnaja Presnja enge freundschaftliche Beziehungen.

Teure russische Hauptstadt?

Das Zauberwort lautet „demokratisch“, weniger auf die politischen Verhältnisse bezogen, sondern auf Preise, die sich auch das Volk leisten kann. Der Eintritt in die Wohnhausmuseen von Alexander Puschkin, Andrei Bely, Michail Lermontow, Maria Zwetajewa und Alexander Skrjabin im alten Arbat-Viertel sind ganz bestimmt demokratisch, allerdings wird hier jeder Federkiel von strengen Babuschkas in Pantoffeln und Filzstrickjacke bewacht: Ein hartnäckiges Relikt der Sowjetzeit. Ansonsten gilt: Es muss nicht immer das Bolschoi-Theater sein! Ein Konzert von Weltrang im Konservatorium ist ebenso erschwinglich wie das Kulturangebot im Gorki-Park, dessen Neugestaltung Milliardär Roman Abramowitsch unter seine Fittiche nahm. Hier trifft man lächelnde Moskowiter. Die Frauen der Oligarchen sorgen wiederum dafür, dass in Moskau die moderne Kunstszene boomt. Als der russische Geldadel 2008 den Gürtel enger schnallen musste, war das aber ebenfalls ein Segen. So wurden auf dem Areal der Schokoladenfabrik „Roter Oktober“ an der Westspitze der Moskwa-Insel die angedachten Geschäfts- und Wohnhäuser für die „Nuworischi“ nicht gebaut. Stattdessen zog Moskaus kreative Szene in die leeren Hallen ein. Hier kann man es spüren – das neue, pulsierende, urbane Lebensgefühl in Moskau.

Das Abenteuer beginnt

Was für die Allermeisten das Ende einer wunderschönen Städtereise ist, das ist für mich der Anfang eines riesigen Abenteuers. Der zweite Teil meiner Reise wird mich quer durch Russland, über zwei Kontinente hinweg, bis an die Pazifik-Küste, nach Wladiwostok führen. Es ist Mitternacht als ich kurz vor Heiligabend am Kasssaner Bahnhof in die Transsibirische Eisenbahn steige. Eine halbe Stunde später ruckelt der Zug gemütlich gen Osten. Ich habe mit meinen Emotionen zu kämpfen. Denn für mich erfüllt sich just in diesem Moment ein Lebenstraum. Als die grellen Lichter Moskaus nach etwa einer Stunde am Horizont verschwunden sind und ich unentwegt immer tiefer in die düstere russische Nacht rausche, erklingen in meinem Kopfhörer die ersten Akkorde von City’s Welthit „Am Fenster“. „Einmal wissen, dieses bleibt für immer!“ До скорого, Москва – Bis bald, Moskau!

Über den Autor

Mario Rönsch, Jahrgang 1983, studierte Bankbetriebswirtschaft und ist Chefredakteur von AnonymousNews. Er gründete 2011 das bundesweit bekannte Anonymous Kollektiv und war 2014 Initiator der neuen Montagsdemos. Er arbeite für den KOPP-Verlag und in leitender Position für das COMPACT-Magazin. Er gilt als ausgewiesener Osteuropa-Kenner: Als Autor und Publizist lebte er viele Jahre in Budapest, Prag und Karlsbad und spricht mehrere Sprachen. Seit 2024 berichtet er aus Russland.

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