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Venezuela – Sturmfront über Caracas

Sturmfront über Caracas
Lenkwaffenzerstörer der US-Marine im Pazifik.

Venezuela besitzt die weltweit größten Ölvorkommen. Dass die USA aktuell ausgerechnet dort eine gigantische Kriegsflotte zusammenziehen, ist wahrscheinlich nur Zufall.

von Kai-Uwe Reiter

Venezuela gehört seit einer gefühlten Ewigkeit zu den sogenannten Schurkenstaaten – jedenfalls aus der Sicht Washingtons. Seit Jahrzehnten fällt der Name des Landes zusammen mit Iran oder Nordkorea, wenn von der vermeintlichen Achse des Bösen die Rede ist.

Kanonenboot-Politik

Am 2. September 2025 versenkte die US-Marine vor der Küste Venezuelas ein Boot, das die US-Regierung dem Drogenkartell Tren de Aragua zuordnete. Washington behauptet, das Schiff habe Drogen in die USA schmuggeln wollen. Donald Trump erklärte, die Bande stehe unter der Kontrolle von Präsident Nicolas Maduro und erhöhte in bekannter Wildwestmanier das Kopfgeld auf dessen Ergreifung auf 50 Millionen Dollar. Die venezolanische Regierung bezeichnete den Angriff als «außergerichtliche Hinrichtung» und wirft den USA zurecht den Bruch internationaler Normen vor. Völkerrechtler bestätigen: Der Präzisionsschlag gegen das Schiff fand zwar in internationalen Gewässern statt, verstieß aber dennoch eindeutig gegen das Gewaltverbot der UN-Charta und das Recht auf Leben, da sich die USA weder in einem bewaffneten Konflikt mit Venezuela befinden noch eine unmittelbare Bedrohung für die Vereinigten Staaten bestand.

Venezuelas Achillesferse ist die einseitige Abhängigkeit vom Öl.

Washington rechtfertigt sein Vorgehen mit der Einstufung von Tren de Aragua als «ausländische Terrororganisation» – diese Klassifizierung ermöglicht es der Trump-Regierung, auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats militärisch aktiv zu werden. US-Geheimdienste kommen freilich hinter vorgehaltener Hand zu dem Schluss, dass Maduro die Bande weder kontrolliert noch leitet. Vielmehr diene die Terrorismus-Keule als Vorwand, um wieder einmal den Druck zu erhöhen und die Weichen für eine mögliche Intervention zu stellen. Im übrigen: Gegen die Drogenimporte aus dem Nachbarland Kolumbien ging Washington nie mit gleicher Härte vor. Kein Wunder: Kolumbien gehört zu den angeblich Guten und schickt Söldner in die Ukraine, während Maduro die Welt aufruft, Palästina anzuerkennen.

Sturmfront über Caracas
Hugo Chavez: Von 1999 bis zu seinem Tod 2013 war er der 62. Staatspräsident Venezuelas und verstaatlichte westliche Ölkonzerne.

Seit August 2025 haben die USA ihre militärische Präsenz in der Karibik massiv aufgestockt. Mindestens acht Kriegsschiffe mit fast 7.000 Soldaten sind nun in der Region stationiert. Kriegsminister Pete Hegseth kündigte an, es werde «nicht bei diesem einen Schlag bleiben». Maduro reagierte mit der Mobilisierung von 4,5 Millionen Milizionären und kündigte militärischen Widerstand im Falle eines Angriffs an.

Die Monroe-Doktrin

Die Asymmetrie der Kräfte ist eklatant: Maduro kann allenfalls auf veraltete sowjetische Waffen und eine schlecht ausgerüstete Armee zurückgreifen. Dennoch wäre eine Invasion kein Spaziergang. Die geografischen Gegebenheiten wie Dschungel und Gebirge, die Gefahr einer Stadtguerilla sowie die Unterstützung durch Russland und China könnten einen militärischen Konflikt in die Länge ziehen – mit unabsehbaren Folgen.

Seit 2018 weigert sich die Bank of England, 14 Tonnen venezolanisches Gold zurückzugeben.

Die historischen Wurzeln des Konflikts reichen bis weit ins 19. Jahrhundert zurück. Der Schlüssel zum Verständnis ist die Monroe-Doktrin von 1823, die Lateinamerika pauschal zur Einflusssphäre der USA erklärte und als Warnung an die Adresse europäischer Mächte gedacht war, sich nicht einzumischen. Seither betrachten die USA die Region als ihren Hinterhof, in dem sie nach Belieben schalten und walten können. Venezuela, das über die größten Ölreserven der Welt verfügt, war dabei immer ein besonderer Dorn im Auge Washingtons.

Schon 1902/03 führte, was wenig bekannt ist, das Deutsche Reich gemeinsam mit Großbritannien eine sogenannte Strafexpedition gegen das Land durch, um Schulden einzutreiben. Die USA nutzten diese Krise, um ihre Dominanz in der Region auszubauen. Seitdem gab es zahllose US-Interventionen – von der Besetzung Kubas, Puerto Ricos und Haitis (1915–1934) bis hin zum Sturz Salvador Allendes in Chile (1973) und zur Invasion Panamas (1989).

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Elf Tote: Luftaufnahme des von der US-Marine beschossenen Bootes.

Mit der Wahl von Hugo Chavez 1998 begann eine neue Ära. Er stieg zum prominentesten Wortführer des sogenannten Bolivarismus auf, der sich in der Tradition des berühmten Freiheitskämpfers Simon Bolivar (1783–1830) für soziale Reformen, eine antiimperialistische Außenpolitik und eine forcierte Integration Lateinamerikas stark machte (siehe Infobox). Chavez’ Regierung verstaatlichte die Ölindustrie und nutzte die Einnahmen für Sozialprogramme, die die Armut von 50 auf 30 Prozent senkten. Gleichzeitig stärkte er die Beziehungen zu Russland, China und dem Iran, um die Abhängigkeit von den Yankees zu verringern. Besonders verwerflich aus nordamerikanischer Sicht: Er trat für eine multipolare Weltordnung ein – ein globalpolitisches Konzept, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion maßgeblich vom russischen Publizisten und Geopolitiker Alexander Dugin formuliert wurde und auch Putin beeinflusste. Chavez’ Achillesferse war jedoch die einseitige Abhängigkeit vom Öl. Als die Preise fielen, gerieten seine Sozialprogramme ins Stocken. Nach seinem Tod 2013 verschärften Korruption und Misswirtschaft die Dauerkrise.

2019 erkannte die US-Regierung den Oppositionsführer Juan Guaidó als Interimspräsidenten an und versuchte nach dem Drehbuch der sattsam bekannten Farbrevolutionen, Maduro zu stürzen. Der Putschversuch scheiterte, weil Guaidó keine Massenbasis hatte und vom Militär nicht unterstützt wurde. Die US-Sanktionen zerstörten zwar die Wirtschaft, schwächten Maduro aber nicht wirklich, denn Russland und China setzten ihre Unterstützung fort. Der Fall Guaidó führte der Welt vor Augen, dass die USA zwar nach wie vor über enorme Machtmittel verfügen, diese aber nicht mehr ausreichen, um weltweit nach Belieben Regimewechsel durchzusetzen.

Unter Chavez begann Venezuela, seine Ölexporte in anderen Währungen als dem US-Dollar abzuwickeln – eine dreiste Herausforderung für die Dollar-Hegemonie. Länder, die in der Vergangenheit ähnliche Schritte gewagt hatten, wurden militärisch bestraft: Als der Irak unter Saddam Hussein Öl in Euro handeln wollte, folgte 2003 die völkerrechtswidrige US-Invasion. Ebenso erging es Libyen: Gaddafi plante eine afrikanische Goldwährung und wurde deswegen 2011 gestürzt und ermordet. Venezuela droht ein ähnliches Schicksal.

Der große Goldraub

Seit 2018 weigert sich die Bank of England, 14 Tonnen venezolanisches Gold im Wert von einer halben Milliarde Dollar an Caracas zurückzugeben. Die Frankfurter Allgemeine kommentierte damals: «Gold zurück gibt es eben nur unter Freunden.» Doch die britische Blockade kam einem Schuss ins eigene Knie gleich und untergrub die anglo-amerikanische Finanzhegemonie: Wenn selbst westliche Zentralbanken nicht mehr als neutrale Verwahrer ausländischer Einlagen agieren, warum sollten fremde Staaten ihre Reserven dann noch in London oder New York lagern?

Venezuela ist ein Testfall für die globale Ordnung des 21. Jahrhunderts.

Weiteren Konfliktstoff birgt der Gebietsstreit um Esequibo, eine 160.000 Quadratkilometer große Region, die Venezuela seit der Kolonialzeit beansprucht. 1899 fällten die USA und Großbritannien in Abwesenheit Venezuelas einen Schiedsspruch, der Esequibo dem britischen Guayana zuschlug. 1966 wurde in Genf vereinbart, dass die Region bis zur Klärung der Grenzfrage nicht wirtschaftlich genutzt werden solle. Doch seit 2015 fördert ExxonMobil dort Öl – in flagranter Missachtung des Abkommens. Die USA unterstützen Guayana und ignorieren damit einmal mehr venezolanische Souveränitätsrechte. So sieht neokoloniale Machtpolitik im 21. Jahrhundert aus: Westliche Konzerne nutzen offene Rechnungen aus der Vergangenheit, um sich fremde Rohstoffe anzueignen – und erhalten dabei natürlich die Rückendeckung ihrer Regierungen.

Sturmfront über Caracas
Üben für den Ernstfall: Zivilisten und Militärangehörige bei gemeinsamen Übungen, hier am 13. September in San Cristobal in den Anden. Maduro: „Wir sind ein anständiges, fröhliches Volk, aber wir sind ein Volk von stolzen Kriegern.“

Russland ist Venezuelas wichtigster Verbündeter. Moskau liefert Waffen, gewährt Kredite sowie technologische Hilfe und betreibt gemeinsam mit Caracas Ölprojekte. Im Gegenzug gab es Zugang zu strategischen Ressourcen und einen Stützpunkt. Eine US-Intervention in Venezuela würde daher leicht zu einem Stellvertreter-Konflikt der beiden Atommächte führen – ähnlich wie in Syrien oder der Ukraine. Auch China hat in den letzten Jahren Milliarden in Venezuela investiert, vor allem in Petroindustrie und Infrastruktur. Peking sieht in Caracas einen wichtigen Partner im Rahmen der Neuen Seidenstraße und als Gegengewicht zur US-Dominanz in Lateinamerika.

Letztlich ist der Konflikt Teil eines globalen Machtkampfs zwischen den im Abstieg begriffenen USA und den aufstrebenden BRICS-Mächten. Während Uncle Sam versucht, seine Hegemonie zu verteidigen, streben Moskau und Peking eine multipolare Weltordnung an. Venezuela ist dabei ein Testfall: Können die USA noch unilateral intervenieren? Kann Lateinamerika seine Souveränität behaupten, oder wird es erneut zum Spielball fremder Interessen? Venezuela ist aktuell neben der Ukraine ein Testfall für die globale Ordnung des 21. Jahrhunderts. Wer hier siegt, bestimmt die Regeln der nächsten Jahrzehnte.

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