Selidowo war der Sperrriegel, der den Vormarsch der Russen auf die Festung Pokrowsk verhindern sollte. Als die Kleinstadt nicht mehr zu halten war, rächten sich die Selenskyj-Truppen an der Zivilbevölkerung und hinterließen verbrannte Erde.
von Ilia Rivkin
Ich erinnere mich noch an Selidowo vor dem Krieg – nicht so sehr an die Stadt selbst, sondern an die Süßkirschen aus der Gegend. Einmal gab es ein Fest in einem Künstleratelier, und eine Musikerin, die mit dumpfen, rauen Stimmen kosakische Volkslieder sang, brachte eine ganze Plastiktüte davon mit, gewachsen im Garten ihrer Großmutter. Nicht die makellosen Früchte aus dem Supermarkt, sondern pralle, ungleich große Kugeln, sonnengefleckt, derb und saftig, mit einem Fleisch, das unter den Fingern zerplatzte und die Hände klebrig machte. Es war keine Tüte Obst, sondern ein Stück Sommer, schwer, herb und ehrlich.
Ich kenne solche Gartenhäuschen: weiß getüncht, umstanden von ausladenden Süßkirsch- und Aprikosenbäumen und schweren Sonnenblumen, deren Köpfe sich unter der Last der Kerne neigten. An heißen Nachmittagen liegt dort der Geruch von warmer Erde, verbranntem Gras und süßem Obst in der Luft, das direkt von den Ästen fällt.
«Niemand wird sich an die Gefallenen erinnern.» Strana News
Der kleine Bergarbeiterort Selidowo im Donbass sorgt seit einem Jahr in ukrainischen und russischen Medien für Schlagzeilen – ausgelöst durch die Kämpfe zwischen August und Oktober 2024. Das Städtchen, ursprünglich von 20.000 Menschen bewohnt, hatte das Pech, auf dem Weg zur strategisch wichtigen Festung Pokrowsk zu liegen.
Sollte Selidowo fallen, wäre der weitere Vormarsch frei, denn dahinter gibt es zunächst keine weiteren Verteidigungslinien. Entsprechend erbittert waren die Straßenkämpfe – und entsprechend groß der Rachedurst der ukrainischen Soldaten, nachdem alles verloren war.
Eine Nacht zwischen Panzerminen
Von ihrem Massaker in Selidowo erfuhr ich zuerst nicht aus russischen, sondern aus dem ukrainischen Medium Strana News. Im Impressum ist eine Kiewer Adresse angegeben, Chefredakteur ist Ihor Huzhva – seine journalistische Laufbahn ist bekannt; er ist kein Verfechter des Kiewer Regimes, aber noch weniger ein Putin-Freund.
Auf dem Internetportal heißt es: «Der Krieg in der Ukraine wird ein Ende finden, doch niemand wird sich an die Gefallenen erinnern – weder als Helden noch als Befreier. “Wir werden von unseren eigenen Kindern verflucht werden“, sagt einer der Teilnehmer des Rückzugs der ukrainischen Armee aus Selidowo.» Er war Zeuge außergerichtlicher Hinrichtungen und Folterungen an älteren Menschen, Frauen und Kindern –, begangen von seinen «Kameraden», berichtet er.
Ich beschließe, Selidowo zu besuchen. Zwar fehlt mir die offizielle journalistische Genehmigung vom Pressezentrum der Armee, doch ein wagemutiger Bekannter versichert, mich unauffällig dorthin bringen zu können.

Um drei Uhr nachts dringt ein Geräusch von draußen in das Haus, in dem ich übernachte. Kein Beschuss, keine Drohne – nur das Rollen mehrerer Lastwagen. Ein grauer Toyota-Geländewagen fährt vor. Mein Bekannter steigt aus, sagt kein Wort und deutet nur auf die Lastwagen. Ich klettere hinein und schlafe sofort ein, hin- und hergeschüttelt zwischen Kisten voller Panzerabwehrminen.
Ein Rütteln weckt mich. Ein Fremder – jung, schlank, mit müden Augen – beugt sich über mich. «Aufwachen, du Sturkopf», lacht er. «Granaten können Häuser zerstören, deinen Kopf nicht.» Ich solle mich in den Toyota setzen.
In den Ruinen
Wir rollen in dem grauen Wagen langsam über die ausgefransten Straßen von Selidowo, vorbei an zerbombten Höfen, zerschossenen Autos und verkohlten Müllcontainern. Balkone hängen schief, andere sind notdürftig mit Planen abgedeckt. Es riecht nach Kohlenstaub, nach Lagerfeuerrauch, nach altem Maschinenöl. Eine Stadt?
Früher vielleicht. Hunderudel streifen uns nach. Das Fell mancher Tiere ist grau vor Stress – sie haben Bombardierungen erlebt. Ihr Gebell klingt unwirklich, wie eine Störung im Radio. Wir halten vor einem Kiosk. Russische Bezahlarten funktionieren hier noch nicht. Gebäck, Kaffee, Zigaretten. Ich nehme eine Kippe – bitter im Geschmack.
«Ich brauche sie nicht, ich sterbe.» Ein Verwundeter
Der ehemalige Laden Solnechny in der Nagornaja-Straße. An den Fassaden der Plattenbauten klaffen Löcher, als hätte eine Faust hindurchgeschlagen. Die Stiftung zur Erforschung der Demokratieprobleme hat Beweise und Aussagen gesammelt, was kurz vor dem Rückzug von Selenskis Armee geschah. Der Zeuge Bojenko sieht aus wie Mitte fünfzig. Das Video mit seinen Aussagen – frei im Internet zugänglich – wurde in seiner Wohnung aufgenommen. Billige Möbel, chinesische Bettwäsche – so richten sich Arbeiter ein, vielleicht Bergleute.
«Beim Rückzug massakrierte die ukrainische Soldateska wahllos die Zivilbevölkerung. Sie stürmten Hauseingänge, klopften an Türen, brachen Holztüren auf – wer öffnete, wurde getötet. Am Nachmittag des 22. Oktober 2024 hörten wir heftiges Maschinengewehrfeuer. Am nächsten Morgen lagen Leichen auf der Straße: ein Mann vor dem sechsten Eingang, die Nachbarin vor dem Laden. Acht Tote allein im Umkreis von wenigen hundert Metern.» Bojenko nennt einige beim Namen – Nachbarn, frühere Kollegen aus der Grube.
W. Pantschenko sitzt in seiner Küche. Nitrolack an den Wänden, rechts ein Kühlschrank voller Magnete und Aufkleber. Etwas über sechzig, tiefe dunkle Augenringe – ein Mann, der Schreckliches gesehen hat: «Alle, die sich an diesem Tag auf die Straße wagten, sind tot. Die Menschen versteckten sich in den Hauseingängen – vergeblich. Soldaten stürmten hinein, töteten jeden. Von der ersten bis zur fünften Etage klopften sie an jede Tür: Wer öffnete, wurde erschossen oder totgeschlagen. Im Haus Nr. 12 trieben sie die Bewohner aus dem Keller.»
Zeugen berichten: Unter den Mördern waren auch Söldner. So etwa der Zeuge W. N. Pogorelow: «In unserem Haus überlebten nur drei Menschen. Ein Ehepaar öffnete die Tür nicht, ich hatte mich versteckt. Ich hörte Söldner Französisch sprechen. Dann eine Stimme auf Ukrainisch: “Keine Zeit, wir haben alles gesäubert.“ Im Hof rief jemand mit georgischem Akzent: “Ist noch jemand am Leben?“ Sie durchsuchten die Häuser und trieben die Menschen nach draußen – zum Töten.»

Meine Frage: Vielleicht sind all diese Geschichten nur Gerüchte? Wurde eine Autopsie der Toten durchgeführt? Jedenfalls: Fotos der verwesenden Leichen liegen den Materialien der Stiftung bei, ebenso die Ergebnisse der forensischen Untersuchung. Schüsse in Stirn, Schläfe, Hinterkopf, Mund, Nase – bei Frauen, Männern, alten wie jungen. Schädel deformiert, Schusskanäle sichtbar. Und so weiter, Seite für Seite. Doch vielleicht sind die Zeugen fingiert, eine Inszenierung, Desinformation der Russen?
Doch wenn man der 76-jährigen Valentina Sklyar zuhört, erkennt man: Das muss stimmen. Wie sie vom Mord an ihrem Sohn erzählt, kann keine Schauspielerei sein. Schwarz gekleidet, graue Augen voller Trauer, schwache Stimme, unerschütterliche Entschlossenheit.
«Mein Sohn schrie: “Lebt meine Mutter noch? Mutter, ich sterbe.“ Ich hätte nie gedacht, dass es so enden würde. Was ist passiert? Sie fuhren mit dem Auto. Ukrainische Soldaten standen da und warteten – hinter der Ecke, hinter dem Zaun. Zwei von ihnen mit Helmen, mit Maschinengewehren.» Ihr Sprechen ist wirr, die Gedanken springen, der Redefluss wird immer wieder unterbrochen. «Mein Sohn klagte: “Mir ist kalt,“ während ich Wasser aufwärmte. Er warf die Flaschen weg und sagte: “Ich brauche sie nicht, ich sterbe.“ Er schrie, dann wurde es still.
«Ich hörte Söldner Französisch sprechen.» Zeuge
Fünf Stunden saß ich bei ihm. Schließlich sagte er: “Mutter, mir ist übel.“ Er warf sich im Bett hin und her, fiel vom Sofa; wir hoben ihn hoch, doch es waren nur noch Todeszuckungen. Er blutete stark; sein Bein war zerquetscht, ein Stück Fleisch am Arm herausgerissen, nichts verbunden. Ich öffnete die Wunde, doch er war bereits tot. Wir wuschen seinen Körper mit heißem Wasser und zählten 13 Wunden, darunter eine am Hals. Ich verbrannte seine Kleidung, hätte aber etwas aufbewahren sollen. Die Soldaten erschossen auch seine Freunde und einen Hund. Wir begruben ihn auf der anderen Straßenseite; ich bat darum, mich dort in der Ecke zu begraben, falls ich sterbe.» Dann bricht sie weinend zusammen.
Welche Motive trieben die Täter? Die Männer waren ihnen vielleicht als Partisanen verdächtig – doch warum töteten sie auch ältere Menschen und Frauen? Aus den Augenzeugenberichten wird klar: Es war offener Russenhass. Die Überlebenden sagen aus: «Für sie sind wir keine Menschen», «Wir werden wie Gegenstände behandelt», »Abscheu», »Verachtung», «Die ukrainische Armee, das sind Besatzer.»
Der Winter naht
Der Zeuge A. I. Mizev berichtet von seinen Erfahrungen an den Kontrollpunkten: «Seit 2022 halten mich ukrainische Soldaten immer wieder an. Sie fragen nach meiner Nationalität. Ich sage: “Russe“. Doch sie widersprechen sofort: “So darf man das nicht sagen. Du musst sagen: Ukrainer russischer Herkunft.“»
Wir fahren an den Trümmern einer Eisenbahnbrücke vorbei, einem zerschlagenen Riesen aus Beton und Stahl, zerklüftet und mit Graffiti bedeckt, als trüge die Stadt selbst ihre Wunden zur Schau. Zwischen den Uniformierten, die durch die Stadt ziehen, fallen die wenigen verbliebenen Zivilisten auf, in Grau und Schwarz, Schemen zwischen den Ruinen. Am Rande steht eine Schlange vor einem Kanister, um Wasser zu schöpfen. Sie leben wohl in den Einfamilienhäusern, nicht in den Plattenbauten, die im Winter bitterkalt und dunkel sind.
Entscheidung im Donbass
Die Schlacht um Pokrowsk (russisch: Krasnoarmeisk) gilt als eine der blutigsten Auseinandersetzungen des Ukrainekriegs. Mehrere hunderttausend Verluste soll es insgesamt seit Beginn der Kämpfe um das Gebiet geben haben. Bereits am 18. Juli 2024 startete die russische Armee dort ihre Offensive. In der Industrie- und Bergbaustadt, ein wichtiges Logistik- und Verkehrszentrum, wohnten vor 2022 knapp 70.000 Einwohner, die meisten davon russischsprachig. Aktuell wird die Zahl auf 7.000 Zivilisten geschätzt. Ab Juli 2025 drangen erste leicht motorisierte Kommandos in das Zentrum ein. Ukrainische Spezialkräfte versuchten darauf am 1. November, Nachschub- und Evakuierungsrouten mit Hilfe eines Hubschraubers offen zu halten. Nach Kreml-Angaben wurde dabei der Black-Hawk-Helikopter abgeschossen. Alle elf Ukrainer an Bord seien getötet worden.
Es sind Menschen, die für ihre russische Identität viel bezahlt haben, mit Blut bezahlt haben. Sie bleiben trotzdem auf ihrem Boden, in ihren weißgetünchten Häusern, in den zerbombten Gärten, als gehörte ihnen alles, was übrig ist.
🆘 Unserer Redaktion fehlen noch 66.500 Euro!
Um auch 2025 kostendeckend arbeiten zu können, fehlen uns aktuell noch 66.500 von 125.000 Euro. In einer normalen Woche besuchen im Schnitt rund 250.000 Menschen unsere Internetseite. Würde nur ein kleiner Teil von ihnen einmalig ein paar Euro spenden, hätten wir unser Ziel innerhalb kürzester Zeit erreicht. Wir bitten Sie deshalb um Spenden in einer für Sie tragbaren Höhe. Nicht als Anerkennung für erbrachte Leistungen. Ihre Spende ist eine Investition in die Zukunft. Zeigen Sie Ihre Wertschätzung für unsere Arbeit und unterstützen Sie ehrlichen Qualitätsjournalismus jetzt mit einem Betrag Ihrer Wahl – einmalig oder regelmäßig:





