Welches Ausmaß an Unehrlichkeit ist die Gesellschaft bereit zu akzeptieren? Ein Aufsatz über eine depressive Bevölkerung, einstürzende Türme und abgeriegelte Themen.
von Paul Schreyer
Manchmal sind es Alltagsdetails, die mehr über den Zustand des Landes verraten als jede Statistik. Die Postfiliale, die plötzlich nur noch halbtags geöffnet hat, und in deren langer Warteschlange man kurz vor Schließung um 12 Uhr Mittags mit anhört, wie eine Mitarbeiterin einem IT-Fachmann, der gerade im laufenden Kundenbetrieb eine Panne am Computersystem der Filiale zu beheben versucht, zur Erklärung für Schließung und Warteschlange zutuschelt: „Wir haben drei Dauerkranke“, worauf der IT-Mann mit abgeklärter Miene und leiser Stimme antwortet: „Die haben wir auch.“ Die Gesichter der Wartenden spiegeln eine Mischung aus Frustration und Ergebenheit. Niemand spricht miteinander.
Besucht man nach dem Gang zur Post nach vier Wochen sommerlicher Nachrichtenabstinenz erstmals wieder die Onlineausgaben der großen Nachrichtenportale, sind nicht nur die exakt gleichen Themen wie vor einem Monat vorzufinden, sondern auch der gleiche Sachstand bei nahezu jedem Thema. Nichts hat sich getan. Es stagniert – das aber wird gründlichst protokolliert, Tag für Tag. Wer vier Wochen aus der Nachrichtenmühle aussteigt, verpasst nichts als das Gefühl, die tägliche Nachrichtendosis helfe noch bei der Orientierung.
Die Gesichter in der Innenstadt erschrecken durch ihren depressiven Grundcharakter, der überall durchschimmert, die ständige Anspannung, die Erschöpfung. Alles geht immer weiter, nichts wird besser. Die Situation nicht abwenden, ja überhaupt gar nichts dagegen tun zu können, ausgeliefert zu sein – eigentlich ist es ein Krankheitsbild, das sich in diesen Stimmungen ausdrückt. Nur, was genau ist die schlimme Situation, worin besteht das Problem?
Es ließen sich wieder Statistiken bemühen und politische Entscheidungen analysieren. Alles daran wäre richtig, doch irgendwie trifft es auch nicht den Kern. Zu fragen wäre, wie das angefangen hat, wie lange es schon so geht. Eine Frage, die jeder anders beantworten wird, vor dem Hintergrund von eigenem Lebensalter und Erfahrung. Ein möglicher Startpunkt wäre 9/11, verstanden nicht als politisches Ereignis, sondern als Veränderung einer Grundkonstante: Welches Ausmaß an Unehrlichkeit ist die Gesellschaft bereit zu akzeptieren? Wieviel Falschheit wird schweigend mitgetragen?
„Krieg gegen den Terror“, „Schläfer mitten unter uns“, „unsere Freiheit in Afghanistan verteidigen“, „harsche Verhörmethoden“, die Verhörten „gestehen ihre Schuld“, „WTC 7 ist durch Feuer kollabiert“. Und natürlich: „Nichts ist mehr wie es war“.
Die Falschheiten hatten Bestand, die Wortverdreher kamen damit durch. Erst bei 9/11, später dann, noch viel massiver, bei Corona. Unehrlichkeit als Grundrauschen der Politik, das die Dauerdepression unterfüttert und positive Zukunftsvisionen lächerlich erscheinen lässt. Außer natürlich, man akzeptiert die Falschheiten als wahr.
Der Einsturz der Türme im Lichte der Baustatik – noch heute, 24 Jahre später, schweigt jeder mit Sachverstand und einer hochdotierten Anstellung zu diesem Thema. Noch immer ist der Hinweis auf eine Sprengung der Türme karrieregefährdend. Die Fachleute, die es besser wissen, und ungefähr verstehen, was am 11. September 2001 passiert ist, schweigen, auch deshalb, kennen genau die Anpassungszwänge, die den Preis für Ehrlichkeit hochtreiben, sehr hoch.
Die Themen sind dabei eigentlich austauschbar: 9/11, Corona, Russland. Wer will anecken? Und wozu überhaupt noch? Eine Gesellschaft auf Autopilot, die Wegpunkte auf der abzufliegenden Route haben andere programmiert. Manifestiert solche Ergebenheit, Mutlosigkeit, Bequemlichkeit nicht überhaupt erst die schlimme Situation? Oder anders gefragt: Wenn geglaubt wird, dass es sich nicht länger lohne, für Wahrheiten, von denen man privat überzeugt ist, öffentlich zu streiten, wird dann nicht genau dies, selbsterfüllend, auch zur Realität? Und führt das dann nicht zum bekannten Ergebnis: kollektive Ohnmachtsgefühle, kompensiert durch vereinzelten Sarkasmus, da wo es noch geht, wo die Gefühle nicht bereits in stumpfe Depression umgeschlagen sind?
Die widerspruchslos hingenommenen Falschheiten lähmen auf jeden Fall. Alles und jeden. Am Ende ist 9/11 dann doch wieder ein lohnendes Beispiel, auch nach 24 Jahren, weil so viele Details dieses Tages das Fehlen, das Verhindern des notwendigen öffentlichen Streits illustrieren. Man kann beinahe eine beliebige Einzelheit herausgreifen, einen „unpassenden“ Puzzlestein und schauen, wie damit umgegangen worden ist und weiter umgegangen wird.
Ein konkretes Beispiel: 9/11 war bekanntlich eine Operation mit entführten Flugzeugen. Falls diese Flugzeuge von Passagieren entführt wurden, die über die – nicht gerade triviale – Fähigkeit verfügen, eine große Linienmaschine zu steuern, dann ist selbstverständlich auch deren Einchecken am Flughafen dokumentiert. Es gibt einen Nachweis, dass sie an Bord waren. Sollte man meinen. Beim Flugzeug, das ins Pentagon gesteuert wurde – das technisch anspruchsvollste Flugmanöver an jenem Tag, bei dem, wie auch bei den Flügen in die Twin Towers, mit plausiblen Argumenten eine Fernsteuerung diskutiert wird – ist gerade das aber nicht der Fall. Es ist nicht dokumentiert, dass der vermeintliche Entführer Hani Hanjour überhaupt an Bord war. Was, vorsichtig ausgedrückt, doch erklärungsbedürftig ist.
Denn wenn er nicht an Bord war, wer lenkte dann die Maschine ins Hauptquartier des US-Militärs? Eine Frage, die nicht gestellt wird, nicht gestellt werden kann. Dabei zeigte sich im Interview mit den Vertretern der amtlichen Untersuchungskommission, der 9/11 Commission, selbst der damalige US-Präsident George W. Bush überrascht. Der Commission Report erwähnt: „Als ehemaliger Pilot war der Präsident erstaunt von der offensichtlichen Raffinesse der Operation und der Steuerung der Flugzeuge, besonders von Hanjours Hochgeschwindigkeitsanflug auf das Pentagon.“
Das ist ein kniffliger Fall für Faktenchecker, denn die Fakten sind in diesem Punkt recht klar (und werden im Folgenden zitiert aus meinem Buch „Faktencheck 9/11“, erschienen vor mehr als einem Jahrzehnt, auszugsweise damals auch bei Telepolis).
Im Detail: Der Flug American Airlines 77 soll, wie erwähnt, von einem saudischen Entführer namens Hani Hanjour ins Pentagon gesteuert worden sein. Er war jedenfalls der Einzige unter den Entführern dieser Maschine, der eine Flugausbildung absolviert hatte, so die Ermittler. Als die Fluggesellschaft am 11. September Details zu den Passagieren von Flug 77 an die Ermittler sandte, war allerdings kein Hani Hanjour auf der Liste. Anstelle der später behaupteten fünf waren nur vier Namen von Verdächtigen darauf verzeichnet: Khalid al Midhar, Nawaf al Hazmi, Salem al Hazmi und Majed Moqed. Die Liste mit den vier Namen tauchte erst 2009 auf, acht Jahre nach den Anschlägen, mitten in einem Stapel interner Dokumente der zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossenen amtlichen Unterschung. Dass bei Flug 77 zunächst nur von vier Entführern ausgegangen wurde, bestätigte damals auch FBI-Direktor Robert Mueller. Und dass Hani Hanjour nicht auf der ursprünglichen Liste stand, berichtete sogar die Washington Post: „Sein Name war nicht auf der American Airlines-Passagierliste weil er möglicherweise kein Ticket besaß.“ An dieser Stelle wird es aber nun widersprüchlich: Denn einer späteren FBI-Ermittlung zufolge hatte Hanjour angeblich doch ein Ticket für den fraglichen Flug gekauft.
Eine Erklärung für die Tatsache, dass sein Name erst später ergänzt wurde, wäre, dass Hanjour den Flug nie antrat, seine Anwesenheit also tatsächlich erst nachträglich zugedichtet wurde, damit überhaupt jemand mit einer dokumentierten Flugausbildung als vermeintlicher Pilot benannt werden konnte.
Die 9/11 Commission untersuchte gründlich die realen Check-in-Daten am Washingtoner Flughafen, von wo aus Flug 77 gestartet war. Den Daten zufolge hatten Khalid al Midhar und Majed Moqed um 7:15 Uhr am Ticketschalter von American Airlines eingecheckt. Die beiden Brüder Nawaf und Salem al Hazmi folgten wenig später, um 7:29 Uhr, nach. Was den fünften, Hani Hanjour, der auf der Liste der Fluggesellschaft fehlte, angeht, vermerkt der 9/11 Commission Report aus dem Jahr 2004 hingegen in einer Fußnote kryptisch: „Die Fluggesellschaft war noch nicht in der Lage, die Check-in-Zeit von Hanjour zu bestätigen.“ Was an sich schon seltsam ist: Ein Fünferteam, bei dem ausgerechnet der Anführer beim Einchecken ein Phantom bleibt, und nur auf einem unscharfen Flughafenvideo aufgenommen worden sein soll.
Erst 2009 wurde durch die Veröffentlichung interner Dokumente der 9/11 Commission, zu denen auch die originalen Dokumente gehören, die American Airlines in dieser Sache an die Commission sandte, für Außenstehende nachweisbar, wie die Commission hier auch sprachlich getrickst hatte. Denn gegenüber der Untersuchungskommission hatte die Fluggesellschaft erklärt, dass nicht etwa nur die Check-in-Zeit „noch nicht bestätigt“ werden könne, wie der Abschlussberichts der Commission behauptet hatte, sondern dass American Airlines vielmehr überhaupt „nicht festellen konnte, ob Hanjour eingecheckt hat“. Was ein Unterschied ist. Das verstörende Fazit: Es bleibt unklar, welche Person oder Technologie die Maschine tatsächlich in ihr Ziel lenkte. Kein ganz unwichtiges Detail, so sollte man meinen.
Dennoch – und darum soll es hier vor allem gehen – braucht dies niemanden zu interessieren. Denn die Logik, nach der solche Fakten bewertet werden, ist sehr viel einfacher. Es brauchen gar keine Fußnoten studiert und auch keine Akten gewälzt zu werden – das sind sämtlich überflüssige Mühen, obsolet durch eine informelle Leitlinie folgenden Wortlauts: Alles was der offiziellen Erklärung widerspricht, ist eine Verschwörungstheorie und damit indiskutabel. Diese informelle Leitlinie ist die Meta-Falschheit schlechthin. Und in der hat man sich eingerichtet, gesellschaftlich. Es dürfte schwierig werden, da irgendwie, irgendwann noch den Ausweg zu finden.
Daher kann der eben beschriebene Sachverhalt in einem etablierten Medium auch gar nicht verhandelt werden. Das ist praktisch ausgeschlossen. Und das wiederum wird so auch für richtig gehalten, nach dem Motto: Wir streiten über solche Themen einfach nicht und das ist auch gut so.
Später, Jahre nach 9/11, verfestigte sich die Methode auch bei anderen Themen: Russland, Klima, Migration. Auch hier ist der Streit, verstanden als respektvolle Diskussion mit offenem Ausgang, nicht länger erlaubt. Bei Corona bröckelt die Gewissheit zwar, aber nur wenig. Die genannten Themenfelder sind mehr oder weniger abgeriegelt, und das wird, wie beschrieben, so auch für richtig gehalten von einem maßgeblichen Teil der Öffentlichkeit.
Vielleicht, so ließe sich argumentieren, ist das ja der eigentliche Kern des Problems. Und nicht, wer welche Flugzeuge steuerte. Dennoch, auch darüber wird noch zu reden sein. Irgendwann. Wann?
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