Meinung

Corona out, Putin in

Corona out, Putin in
Sibirien: Der russische Präsident Wladimir Putin posiert in einem Geländewagen

Der Journalist Walter van Rossum, langjähriger Literaturkritiker beim WDR, hat für uns die Neuerscheinungs-Ankündigungen einiger großer deutscher Buchverlage unter die Lupe genommen und dabei „kein literarisches Wort, keine Analyse zum Thema Corona“ entdeckt, dafür ganze Regalmeter von Werken, die Putin kritisieren.

von Walter van Rossum

Ich habe nie zu den Literaturkritikern gehört, die sich zweimal Mal im Jahr auf die neuen Buchkataloge der Verlage freuen. In meinem Fall türmten sich pro Saison die Vorschaukataloge von über hundert ausgewählten Verlagen knapp einen Meter hoch. Die Schaufenster des Geisteslebens waren gut gemacht und verführerisch. Da begegneten mir Dutzende von Romanen, die versprachen, mein Leben zu verändern, Spuren zu hinterlassen, atemberaubend spannend oder umwerfend humorvoll zu sein. Jedes zehnte Buch wurde wahlweise von Denis Scheck oder Elke Heidenreich dem Leser dringend ans Herz gelegt, sei es um in dieser Autorin die bedeutendste Stimme der jungen Generation zu entdecken oder die verwegenste Prosa unserer Tage zu lesen. Im Sachbuchbereich ging es kaum sachlicher zu. Endlos wurden da entscheidende Probleme der Demokratie, des Dickdarms und des Klimawandels gelöst, unglaubliche Entdeckungen beschrieben und die sonstigen Geheimnisse der Gegenwart durchdrungen. Es fiel schwer, in diesem Schlaraffenland des Geistes seine Auswahl zu treffen, wohl wissend, dass die meisten dieser unsterblichen Schriften nach ein paar Monaten eben doch verscheiden müssten, wenn sie sich nicht auf dem Markt durchgesetzt hatten.

Auf den ersten Blick scheinen Corona und Zeitenwende den Routinen des Buchmarkts nichts anhaben können. Alles wie gehabt? Sehen wir uns die Kataloge dreier großer und wichtiger Buchverlage an: Suhrkamp hatte man vor 30 Jahren noch die Produktion einer eigenen, einer prägenden Kultur nachgesagt. In der Zwischenzeit gibt sich die intellektuelle und literarische Avantgarde eher bei Matthes & Seitz die Ehre, während C. H. Beck zu einer produktiven Hochburg solider bildungsbürgerlicher Schriften geworden ist.

Suhrkamp eröffnet seine Auslagen mit dem neuen Roman Mond vor der Landung von Clemens J. Setz. Es geht um „eine so bewegende wie verstörende Lebens- und Familiengeschichte“. Da jährlich allerdings einige hundert „so bewegende wie verstörende Lebens- und Familiengeschichten“ erscheinen, setzt der Verlag noch einen überraschenden Akzent: „Ein faszinierender, unorthodoxer Blick auf Querdenkertum und alternative Wahrheiten“. Dabei geht es in diesem Roman um einen ehemaligen Fliegerleutnant, der in den 1920er Jahren eine neue Religionsgemeinschaft gründet, dafür sogar ein paar Monate ins Gefängnis muss. Doch richtig schlimm wird es erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Als sich herausstellt, dass seine Frau Jüdin ist, wenden sich auch die engsten Gefolgsleute vom Religionsgründer ab. Suhrkamp: Der Roman ist „die Untersuchung der zerstörerischen Wahnwelt eines manischen Egozentrikers und die Veranschaulichung eines Querdenkertums avant la lettre: bestürzend aktuell“. Das Buch erscheint erst in einigen Wochen. Ich kenne es nicht, aber ich bewundere die Presseleute des Suhrkamp Verlags für den virtuosen Umgang mit dem „Querdenkertum avant la lettre“: einerseits lesen wir von der zerstörerischen Wahnwelt eines manischen Egozentrikers, auf die – andererseits – der Autor einen unorthodoxen Blick zu werfen scheint.

Eine Seite weiter wird der Debütroman von Mina Hava vorgestellt: Für Seka – ein Roman, „in dem das Politische und das Persönliche untrennbar verbunden sind“. Also noch eine „so bewegende wie verstörende Lebens- und Familiengeschichte“, die von den „Versehrungen der Vergangenheit bis in die Gegenwart“ handelt. Auch der neue Roman von Paul Brodowsky bewältigt die Vergangenheit: „Eine schonungslose Selbstbefragung und Spurensuche nach den Prägungen durch die Großväter und Väter“. Dann folgt ein Roman von Andreas Meier: Die Heimat – die es selbstverständlich nicht mehr gibt, weil sie im letzten Jahrhundert bereits unter die Räder gekommen ist. Der jüngste Roman von Christoph Hein erzählt von Ost und West und wie das Politische im Persönlichen erscheint.

Der Band Bürger-Trilogie versammelt drei Theaterstücke über normale Bürger, die mit dem Extremismus in Berührung kommen. „Eine präzise Analyse der Tyrannei“ findet sich sodann in dem Roman der afrikanischen Autorin NoViolet Bulawayo, allerdings in einem fiktiven Afrika. Ein bosnischer Schriftsteller erzählt vom Krieg in Sarajewo, ein polnischer Kollege vom Zweiten Weltkrieg.

Kürzlich kamen wir unter Freunden ins Gespräch über die Zeit der Maßnahmen. Eher anekdotisch versuchten wir zu datieren, wann man denn nach 21 Uhr das Haus noch verlassen durfte – mit oder ohne Hund – und wie viele Menschen aus zwei Familien auf einer Parkbank sitzen konnten, ohne strafrechtlich aufzufallen. Die meisten von uns hatten diese Jahre sehr intensiv erlebt, doch wir mussten feststellen, dass uns die Chronologie ziemlich durcheinandergeriet. Alles schien ineinander zu verfließen und im Rückblick sonderbar opak und verschlossen. Dabei fiel uns ein, dass wir in jenen fast drei Jahren keinen Film gesehen hatten, in dem die Menschen Masken trugen. Doch, ein Mal hätten die Tatort-Kommissare Masken getragen, erinnerte sich jemand, aber dabei spielte die Pandemie keine Rolle, sie fand nur als eine Art Requisite der Umstände statt.

Die Pandemiker hatten dafür gesorgt, dass das Regime ihrer Maßnahmen keine ikonografischen Spuren hinterließ. Die kritischen Reflexionen hatte man von Anfang an den Kritikern überlassen. Die wurden zum Alleinstellungsmerkmal der „Querdenker“. Diese enorme Gedächtnislücke finden wir in den Katalogen der großen Publikumsverlage wieder. Kein literarisches Wort, keine Analyse zum Thema Corona. Bei Beck, Suhrkamp und Matthes & Seitz keine Zeugnisse einer Auseinandersetzung. Auch wenn selten eine Zeit so nach Worten verlangt hat, nach Worten, die im zivilisatorischen Kollaps den Halt der Sprache geboten hätten.

Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, dass ein Poet zu allen gesellschaftlichen Fragen Stellung zu beziehen habe. Es ist die Kulturindustrie, die pausenlos die Illusion befeuert, dass die Künste und das Geistesleben intensiv beteiligt seien an der Definition unserer Realitäten. Und stellt es augenblicklich unter Beweis, wenn es um die sogenannte Zeitenwende geht, die unser Kanzler ausgerufen hat und womit er vermutlich den Krieg des Westens gegen Russland meint, der sich als barbarischer Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine tarnt.

Suhrkamp blickt im neuen Katalog auf ein Meisterwerk der neuen Kriegsrhetorik zurück, das bereits im Herbst 2022 erschienen ist und es inzwischen auf fünf Auflagen gebracht hat: Himmel über Charkiv. Nachrichten vom Überleben im Krieg von Serhij Zhadan. Eine Sammlung von Twitter- und Facebook-Notaten des ukrainischen Autors aus den ersten Monaten des Krieges. Eine Ansammlung von Hasstiraden auf Russland und alles Russische, inklusive Tolstoi und Dostojewski, die nach der gezwitscherten Meinung des Verfassers auf den Müll oder hinter Gitter gehören. Die Zukunft gehört hingegen dem ukrainischen Nationalismus, den Zhadan in der Sprache von Erschießungskommandos besingt. Dagegen nehmen sich die Videosermone seines Präsidenten Wolodomir Selenskyj geradezu lyrisch und humorvoll aus. Das Buch macht einen sprachlos und wäre als pubertäre Suada nicht der Rede wert, hätte der ukrainische Flammenwerfer dafür nicht den „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ erhalten. Ich habe keinen Protest vernommen. Und so ist es offenkundig: Die Vertreter der deutschen Kultur sind in den Krieg gezogen, und da treffen sie vermutlich kurz vor Moskau auf das Rudel deutscher Leitartikler, die wiedermal endlich Hitler besiegen wollen. Abends blättern sie dann in den druckfrischen Neuerscheinungen des Buchmarkts, die ihnen klipp und klar bescheinigen in dem gerechtesten aller Kriege zu kämpfen.

Nun gut, Matthes & Seitz enthält sich hier wie bei Corona jeder Stellungnahme. Stattdessen schwelgt die Verlagsproduktion in verführerisch schön gemachten Büchern aus der Welt des Nature Writings, flankiert von den virtuosen Akrobaten des Tiefsinns, die wie Guillaume Paoli in seinem Buch Geist und Müll über „Denkweisen in postnormalen Zeiten“ sinnieren. Wir sind offenbar bereits in postpostnormale Zeiten eingetreten und insofern noch nicht oder nicht mehr im Denkvisier von Geist und Müll.

Dafür bricht der gute alte C.H. Beck Verlag alle Rekorde an thematischer Clusterbildung. Nicht weniger als acht Sachbuchtitel der Frühjahrskollektion sind Putin und Russland gewidmet – und sogar ein Roman: Der Magier im Kreml von Giuliano da Empoli. Gemeint ist natürlich Putins Arbeitsplatz oder in den Worten des Verlagskatalogs: das „Zentrum des Imperiums der Lüge“. Ungefähr darum drehen sich auch die acht Sachbücher des Verlags in den Frühjahrsauslagen. Die beiden FAZ-Korrespondenten Reinhard Bingener und Markus Wehner durchleuchten Die Moskau Connection und wie des Altkanzler Schröders Netzwerk uns in die Abhängigkeit von Putin gebracht hat. Gerd Koenen denkt in Im Widerschein des Krieges über Russland nach und warum alles so kommen musste. Im Windschatten des Krieges druckte der Verlag dann auch gleich eine aktualisierte Fassung von Koenens Werks Der Russland Komplex. Die Deutschen und der Osten. Der Bundeswehrprofessor Carlo Masala bietet in Bedingt abwehrbereit Einblicke in das Libretto seiner zahlreichen Talkshowauftritte und macht uns fit für die Zeitenwende. Der Osteuropa-Historiker Martin Schulz Wessel schreibt über den Fluch des Imperiums und warum das zaristische Imperium Russland zu Putins Imperialismus führen musste. Der ZEIT-Journalist Michael Thumann erklärt in Revanche. Wie Putin das gefährlichste Regime der Welt geschaffen hat. Es ist nämlich so, dass Putin und seine Spießgesellen in der Ukraine Revanche nehmen für Russlands demokratische Öffnung nach 1991. Die Thinktankerin Constanze Stelzenmüller spielt die Lieblingsschnulze aller westlichen Thinktanker: Die freie Welt und ihre Feinde und erklärt, „was Putins Krieg für uns bedeutet“. Andreas Kappler, noch ein Osteuropa-Experte, schreibt über Ungleiche Brüder und warum Russen und Ukrainer sich nicht mögen und warum die Russen daran schuld sind.

Ich erspare dem erschöpften Leser die Titel aus dem Hause C. H. Beck, die sich nur am Rande mit „Putins barbarischem Angriffskrieg“ beschäftigen. Doch ich erinnere daran, dass bereits im Herbstkatalog dieses Verlages ein gutes halbes Dutzend Titel dieser Bauart und mit zuverlässig gleichen Befunden erschienen sind: Putin ist böse, Putin ist krank, Putin ist ein Imperialist und Russland ist es deshalb auch irgendwie: böse, krank und imperial. Und deshalb muss Russland irgendwie besiegt werden.

Mag sein. Man könnte es allerdings auch etwas anders sehen oder vielleicht sogar ganz anders. In der Buchproduktion der großen deutschen Publikumsverlage finden sich allerdings nicht einmal mehr Spurenelemente eines ganz normalen Pluralismus. Bis vor nicht allzu langer Zeit veröffentlichte Gabriele Krone-Schmalz bei C. H. Beck ihre Bücher. Heute wird sie als „Putinversteherin“ dämonisiert. Auch ihre neueren Bücher bei Beck sind nicht mehr lieferbar. So schnell kann das gehen.

Alles in allem darf man sagen, nicht nur der mediale Mainstream, sondern auch die Industrie des Tiefsinns und ihre Arbeiter sind ganz auf Linie – wie seit 85 Jahren nicht mehr. Ja, die freie Welt und ihre Feinde.

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