Meinung

Die Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand

Die Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand
Friedrich Merz, CDU-Vorsitzender und Kanzlerkandidat

Viele regierende Politiker scheinen nichts mehr zu fürchten als die Normalität, in der nüchtern die Bilanz ihrer Politik gezogen wird. Deshalb greifen sie gierig nach jedem Anlass, um in einen Ausnahmezustands-Modus fallen zu können, koste es, was es wolle.

von Peter Grimm

Erinnern Sie sich noch an die Zeit vor der US-Präsidentschaftswahl? Wenn öffentlich-rechtliche Berichterstatter den Vertretern der rot-grünen Staatsführung mal so etwas wie eine kritische Frage stellen wollten, dann war es u.a. die, ob man denn hinreichend vorbereitet sei auf den Fall, dass Donald Trump die Wahl gewinnen könnte. Dann wurde ihnen meist versichert, darauf wäre man vorbereitet. Man wisse ja noch aus seiner letzten Amtszeit, wie er agiere. Eine Nachfrage, wie man sich denn konkret dagegen gewappnet hätte, dass es keinen Gleichklang mehr in Fragen von Krieg und Frieden geben würde, unterblieb zumeist, oder wurde mit ein paar Floskeln abgetan. 

Dann gewann Donald Trump die Wahl, begann vor ein paar Wochen seine Amtszeit, und die hiesigen Polit-Größen gaben sich von dem, was er tat, so überrascht, wie die Deutsche Bahn von Stürmen im Herbst und Schneefall im Winter. Selbst davon, dass er – wie in seiner ersten Amtszeit auch – Politik gern mal nach der Art des Elefanten im Porzellanladen betreibt. Das befremdet diejenigen, die die Elefanten im Raum ohnehin gern wegignorieren möchten, kulturell natürlich doppelt.

Einen Eklat, wie es ihn vor einer Woche im Weißen Haus beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gab, können sie sich gar nicht anders als vorbereitet und inszeniert vorstellen. Aber passt es zu Donald Trump, jemanden eigens für ein solches Schauspiel ins Weiße Haus vorzulassen? Passt nicht eher die Annahme, dass er spontan ungehalten reagiert, wenn ein Gast aus der Rolle heraustritt, die der Hausherr ihm zugedacht hatte. Der US-Präsident hat auf ein direktes undiplomatisches öffentliches Bedrängen mit Forderungen, zu deren Erfüllung er nicht bereit war und bestenfalls im Hinterzimmer vielleicht zu überreden gewesen wäre, noch undiplomatischer reagiert, um aus seiner Sicht ein paar Dinge im Umgang miteinander mal unmissverständlich klarzustellen.

Damit hat er aus seiner Sicht wahrscheinlich noch kein Tischtuch zerschnitten. Selbst die vorübergehende Aussetzung der Militärhilfe ist aus der Sicht eines Donald Trump bestimmt kein unheilbarer Bruch, aber vor einem Deal muss man sich in seiner Welt halt mal die Instrumente und Daumenschrauben zeigen. 

Dass Trump der Krieg in der Ukraine zu teuer geworden ist und er ihn so schnell wie möglich mit einem Deal mit Putin beenden will, hat er schon im Wahlkampf wiederholt erklärt. Das konnte jeder wissen und sich darauf einstellen..

Realpolitisches Einlenken?

EU-Politiker aus Brüssel sowie Regierende aus einigen EU-Staaten und Großbritannien reagierten hingegen so hysterisch, als stünde eine amerikanische Kriegserklärung bevor. Einerseits bemühten sie sich, von Donald Trump wenigstens einen verbalen Bruderkuss mit der Beschwörung gemeinsamer Werte zu bekommen, andererseits bestärkten sie sich in dem Ansinnen, jetzt endlich eine Art eigenes starkes Bündnis zu schaffen, um im Ernstfall auch ohne die USA sicherheitspolitisch handlungsfähig zu sein. Aber wenn sich die bislang ja sogar zum Teil mutwillig Schwachen zusammenfinden, entsteht dadurch nicht automatisch Stärke. Ohne ein klares positives Ziel zum Beispiel bleibt es eine Ballung der Schwäche.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bekommt aus Europa zwar viele  Solidaritäts-Bekenntnisse, doch diesen zum Trotz zeigt sich überdeutlich: Die USA lassen sich bei der Verteidigung der Ukraine nicht einfach so ersetzen. 

Selenskyj kennt die Schwächen seiner europäischen Verbündeten sicher recht genau. Und er weiß offenbar, dass es keine gute Idee ist, sich allein auf diese Unterstützer zu verlassen, um stolze Distanz zum US-Präsidenten wahren zu können. Stattdessen lenkte der Präsident aus Kiew gegenüber dem weitaus mächtigeren Kollegen in Washington ein. Ob man das, was er ihm schrieb, nun eine Entschuldigung nennt oder nicht, auf alle Fälle erklärt er, nicht im Widerspruch zum Trump-Kurs verharren zu wollen. Ein Rohstoffabkommen könne es geben und Friedensverhandlungen auch.

Wenn der US-Präsident unbedingt einen Friedensschluss mit Putin erreichen will, um beispielsweise Chinas Machtposition zu schwächen, dann scheint es realpolitisch für Selenskyj besser zu sein, als Gesprächspartner mit am Tisch zu sitzen. Zumal es ja, etlichen Berichten zufolge, auch in der Ukraine immer schwerer wird, Soldaten für den Fronteinsatz zu rekrutieren.

Da ist noch was im Schuldentopf

Doch vielleicht geht es einigen der plötzlich in der Weltpolitik so fleißigen Akteure gar nicht so sehr um die Ukraine, sondern um die Ablenkung von schweren innenpolitischen Krisen. Sowohl Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als auch der britische Premier Keir Starmer gelten in ihrer Heimat als politisch schwer angeschlagen. In London verzeichnete Starmers Labour-Regierung im Januar „katastrophale Popularitätswerte“. Macrons Frankreich befindet sich seit Monaten in einer Art politischen Dauerkrise. Innenpolitisch können die Regierungschefs kaum punkten, aber ihre Auftritte auf der Weltbühne verschaffen ihnen eine gute Presse. 

Die deutsche Politik nutzt das auf ganz eigene Weise. Friedrich Merz, der Kanzler in spe, hat mit der SPD bekanntlich ein atemberaubendes Rekord-Schuldenpaket beschlossen, das in der nächsten Woche mit der nötigen verfassungsändernden Mehrheit durch den Bundestag gebracht werden soll. Die Grünen werden daran wahrscheinlich mittun, es sind ja genug Milliarden im geplanten Schuldentopf, dass auch deren Herzensangelegenheiten mit ein paar lohnenden Finanzspritzen bedient werden können.

Für Rüstungsausgaben darf sich Deutschland nach den schwarz-roten Plänen künftig grenzenlos verschulden. Die Kriegsgefahr, die nötige Aufrüstung und Ausrüstung der zuvor gründlich ruinierten Bundeswehr und die stärkere „Souveränität“, die „Europa“ durch eigene militärische Stärke gewinnen soll, gelten den künftig wahrscheinlich Regierenden als hinreichende Begründung.

Folgt man dieser Erzählung, so versetzt uns die Bedrohung, die von Russland nicht erst seit gestern ausgeht, ausgerechnet jetzt in eine ganz besondere Ausnahmesituation, weil der US-Präsident einfach amerikanische Politik macht, ohne Europa zu fragen. Das genau hat Trump im Wahlkampf versprochen. Aber wie konnten die deutschen und EU-Politiker wissen, dass der Mann tatsächlich tut, was er seinen Wählern versprochen hat? Unser künftiger Kanzler beispielsweise tut finanzpolitisch das Gegenteil davon, schon bevor er überhaupt ins Amt gewählt wurde. 

Damit wird jetzt wieder Politik im gefühlten Ausnahmezustand gemacht. Da müssen die Milliarden fließen, Schulden gemacht und störende Gesetze im Eilverfahren abgeräumt oder umgangen werden. Besondere Situationen erfordern nun einmal besondere Maßnahmen – dies soll hängen bleiben. Wenn viel Geld fließt, das den wirtschaftlichen Niedergang des Landes zeitweise übertüncht, vergessen die Bürger diesen Bruch Merzscher Wahlversprechen vielleicht für ein Weilchen.

Problem-Auflösung in Milliarden-Wellen

Die Frage, warum man wegen der Kriegsgefahr neben dem Schulden-Blankoscheck für die Rüstung auch 500 Milliarden Zusatz-Schulden für zivile Staats-Investitionen durchwinken muss, stellen ohnehin nur wenige. Und wenn, wird achselzuckend auf die Rücksichten, die man auf den künftigen Koalitionspartner nehmen musste, verwiesen.

Wer das Anpacken von Problemen im Rahmen eines „Politikwechsels“, wie von den Unionsparteien versprochen, umgehen will, für den ist jede Ausnahmezustandserzählung willkommen, weil es sich dann verbietet, die eigentlich anstehenden Fragen zu stellen. Vor Kurzem war noch vom nötigen Kassensturz die Rede, um Geld für unnötige Projekte streichen und für die Erfüllung der vernachlässigten staatlichen Kernaufgaben verwenden zu können. Ein solches Aufräumen hätte dem Land nicht nur aus finanziellen Gründen gutgetan. Doch jetzt wird es bald den Anschein haben, dass sich jedes Problem kurzfristig in neuen Milliardenwellen auflöst. 

Der Ausnahmezustand erscheint manchem Regierenden sicher attraktiver als der demokratische Normalzustand des rechtskonformen Regierens. Dass jeder Bürger ungestraft am Regierungskurs herumnörgeln darf und die Opposition mitunter in der Lage ist, das eine oder andere weitreichende Vorhaben sogar zu verhindern oder zu mildern, kann für Mächtige verständlicherweise zuweilen störend sein. Aber die Bürger, also den Souverän, kann dies vor manchem Unheil bewahren. Deshalb sollten sie eigentlich alarmiert sein, wenn Regierungen in einen erklärten oder auch unerklärten Ausnahmezustands-Modus fallen. Denn dann wird es mindestens sehr teuer.

Vor knapp zehn Jahren gab es die von Kanzlerin Angela Merkel bekanntlich durchaus befeuerte Massenmigrationskrise. Das Land befand sich in einer Art Ausnahmezustand, und das Kanzleramt zog zuweilen Kompetenzen an sich, die es eigentlich nicht hatte. Manch einer, dem Entscheidungen aus der Hand genommen wurden, war darüber wahrscheinlich auch ganz froh, denn es gilt hierzulande nicht gerade als erstrebenswert, Verantwortung zu übernehmen. Sich offen mit unbequemen Fakten gegen das „freundliche Gesicht“ des „Wir schaffen das“ zu stellen, galt den meisten seinerzeit ohnehin als irgendwie unanständig. 

Horst Seehofer hatte seinerzeit als bayerischer Ministerpräsident immerhin gedroht, dass der Freistaat Bayern gegen Merkels Migrationspolitik vor dem Bundesverfassungsgericht klagen könnte. Ein entsprechendes Rechtsgutachten, das er von dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio hatte anfertigen lassen, stellte in der von der Bundeskanzlerin durchgezogenen Politik der offenen Grenzen einige Rechtsbrüche fest. Doch Folgen hatte das keine. Merkel ließ sich von Seehofers Drohungen nicht beeindrucken, und der nutzte das Gutachten nicht, um auch tatsächlich zu klagen. Kritisch aufgearbeitet wurde Merkels Migrationspolitik bislang nicht

Die Folgen dieser Politik spürt das Land heute immer stärker. Aber diesem Problem möchte sich die regierende Politik immer noch ungern stellen. Friedrich Merz hat das zwar versprochen, doch dieses Versprechen wird wohl ebenso wertlos sein wie sein Bekenntnis zur Schuldenbremse.

Jetzt entschied ein Parteivorsitzenden-Quartett

In der Zeit der Corona-Ausnahmezustände gab es dann den offenen Entzug und die Beschneidung verschiedener Grundrechte. Die Regierung schrieb dem Souverän vor, wohin er gehen darf, wie viel Besuch er bekommen darf und welche Tätigkeiten ihm verboten sind. Der Staat verbot zeitweise Versammlungen, die Betätigung von Vereinigungen, die Begleitung sterbender Angehöriger, den Schulbesuch von Kindern, das Reisen, das Beherbergen von Ortsfremden im Hotel, die Bewirtung von Menschen, die sich einer kaum getesteten Injektion verweigerten, den Gottesdienst etc.

Kritisch aufgearbeitet wurde nichts von alledem. Und Folgen hatte es auch für keinen der Verantwortlichen, obwohl doch beispielsweise unstrittig ist, dass regierungsseitig Einfluss auf die „wissenschaftliche“ Bewertung der „Gefährlichkeit“ des Virus genommen wurde, weil man unbedingt eine Legitimation für den Ausnahmezustand behalten wollte. Demokratische Entscheidungsprozesse wurden de facto oft durch Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz ersetzt. Das Regieren im Ausnahmezustand schien einigen der Regierenden sichtlich zu gefallen. Sie trennten sich deshalb wohl auch ungern und viel zögerlicher als alle Nachbarländer von Beschränkungen und Gängelungen.

Und jetzt dient plötzlich Donald Trumps Auftreten gegenüber dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj als Anlass für mutmaßlich künftige deutsche Regierungsmitglieder, in eine Art Ausnahmezustands-Modus zu verfallen. Ganz so, als wäre Trumps Art der Politik eine unvorhersehbare Naturkatastrophe, auf die man sich vorher gar nicht habe einstellen können.

Jetzt beschließt kurz nach einer Bundestagswahl ein Parteivorsitzenden-Quartett, von denen nur einer – der bayerische Ministerpräsident – überhaupt ein Staatsamt inne hat, eine neue Rekord-Verschuldung des Landes. Die demokratische Legitimation des Vorhabens von vielleicht künftigen Regierungsmitgliedern, soll durch Grundgesetzänderungen erfolgen, die der abgewählte Bundestag beschließen soll, weil es im bereits gewählten, aber noch nicht konstituierten Bundestag dafür keine verfassungsändernde Mehrheit mehr gibt. Begründet wird dieses putschartige Vorgehen mit drängender Gefahr. Beginnt die nächste Regierung also schon, bevor sie überhaupt gebildet wurde, mit dem Regieren im Ausnahmezustands-Modus? Das ist immerhin wirklich eine politische Innovation. Es ist eine Art von Politikwechsel, nur nicht der, den Friedrich Merz versprochen hat.

Mehr lesen über

Wir können nur mit Ihrer Hilfe überleben!

Ihnen gefallen unsere Inhalte? Zeigen Sie Ihre Wertschätzung. Mit Ihrer Spende von heute, ermöglichen Sie unsere investigative Arbeit von morgen: Unabhängig, kritisch und ausschließlich dem Leser verpflichtet. Unterstützen Sie jetzt ehrlichen Journalismus mit einem Betrag Ihrer Wahl!

🤍 Jetzt Spenden

Unsere Buchempfehlung

Teilen via