Experten gehen davon aus, dass die Deutschen an den Folgen einer kollektiven Traumatisierung leiden, die der zweite Weltkrieg verursacht hat. Das zeige sich im Umgang mit aktuellen Krisen ebenso wie in der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft. Doch es gibt auch Auswege.
von Susanne Wolf
Die deutsche Traumastiftung beschreibt den Begriff Trauma als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und verarbeitet“ werden kann und die „oft Resultat von Gewalteinwirkung – sowohl physischer wie psychischer Natur“ ist. Zunehmend gehen Traumaforscher auch von einem Entwicklungstrauma aus, das seinen Ursprung in der frühen Kindheit hat.
„Entwicklungstrauma kann entstehen, wenn Menschen nicht genügend Bindung bekommen, sie sich zu wenig gesehen fühlen“, erklärt die Traumatherapeutin Dami Charf. „Manche Traumaforscher nennen es die Mutter aller Krankheiten und Störungen. Es gibt Autoren, die von einer verdeckten Epidemie sprechen“, so Charf weiter. Belastende Situationen und Erfahrungen, die in der frühen Kindheit gemacht werden, haben einen gravierenden Einfluss. Sie prägen das Verständnis der Welt, von sich selbst und der eigenen Sicherheit. „Viele Menschen denken, dass Dinge, die man nicht weiß, auch keinen Einfluss auf uns haben“, so Charf. „Doch gerade verdrängte traumatische Erfahrungen beeinflussen unser Leben massiv.“
Der Begriff Trauma, der im Griechischen „Wunde“ oder „Verletzung“ bedeutet, hat seinen Weg in die Alltagssprache gefunden. Nicht immer wird er jedoch richtig verwendet: Einerseits wird oft schnell von traumatischen Erfahrungen gesprochen, andererseits gibt es Menschen, die jahrelang leiden, ohne zu verstehen, dass es sich um psychische und körperliche Symptome eines Traumas handelt. „Sehr oft wurden diese Traumata über Generationen weitergegeben, wobei die sichtbaren Auswirkungen manchmal eine Generation überspringen“, erklärt die Traumatherapeutin Milaya Lodron. „Unsere Großeltern haben viel investiert, um während der Kriegs- und Nachkriegszeit zu überleben und den Schmerz nicht zu spüren.“ Diese Generation konnte und durfte sehr wenig fühlen, diese Verdrängung aber wirke sich nun auf die heutige Generation und junge Menschen aus, so Lodron.
Trauma über Generationen hinweg
Traumaexperten gehen davon aus, dass unsere Gesellschaft an den Folgen einer kollektiven Traumatisierung leidet, die der zweite Weltkrieg mit all seinen Folgen, insbesondere in Europa, verursacht hat. Man spricht von „transgenerationalem Trauma“, wenn seelische Verletzungen über Generationen weitergegeben werden; in der Wissenschaft werden solche Zusammenhänge vom Forschungsgebiet der Epigenetik umfasst. Vereinfacht gesagt: Umweltfaktoren und Lebenserfahrungen beeinflussen die Aktivität von Genen. „Wenn wir mit einem traumasensiblen Blick hinschauen, erkennen wir, dass viele unserer körperlichen und psychischen Symptome in direktem Zusammenhang mit diesem transgenerationalem Trauma stehen, das wir von unseren Großeltern und Eltern ererbt haben“, betont Milaya Lodron. „Ich sehe oft Menschen, die erst hinschauen, wenn der Leidensdruck zu groß wird oder sich heftige Symptome zeigen – wie etwa chronische Schmerzen, Schlaf-und Verdauungsstörungen, Dauerstress, Depressionen oder Angstzustände. In weiterer Folge können sich daraus schwere Krankheitsbilder entwickeln.”
Raymond Unger, Autor und Maler mit psychotherapeutischer Ausbildung, beschäftigt sich mit den Auswirkungen generationenübergreifender Traumata auf die heutige Gesellschaft. In seinen Büchern „Vom Verlust der Freiheit: Klimakrise, Migrationskrise, Coronakrise“ und „Die Heldenreise des Bürgers: Vom Untertan zum Souverän“ geht er diesem Thema auf den Grund: „Insbesondere Babyboomer, deren Eltern oftmals kriegstraumatisiert waren, erlebten in der Kindheit nicht selten emotionale Vernachlässigung“, erläutert Unger. „Anstatt jedoch zu erkennen, dass die eigenen Eltern egoistisch und emotional ablehnend reagieren mussten, um sich selbst zu schützen, kommt es beim Kind im Rahmen einer überlebenswichtigen Strategie zu einer Uminterpretation der realen Situation: Das Kind erlebt sich selbst als ungenügend und beginnt, die Eltern zu überhöhen.“
Da man mit dieser tief empfundenen Scham auf Dauer nicht leben könne, blieben der Psyche im Erwachsenenalter nur die Kunstgriffe Übertragung und Projektion. „Ungeliebte Anteile werden im Außen bekämpft, zugleich besteht die unbedingte Notwendigkeit, konformistisch zu agieren, um nicht von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen zu werden“, erklärt Unger. „Zu allem Elend besteht noch eine Übertragung auf Autoritäten in Medien, Politik und Wissenschaft als ,Ersatzeltern’. Man will glauben, dass es Entscheider immer nur gut mit einem meinen.“
In gesellschaftlichen Krisen wie der Corona-Zeit oder der aktuellen Militarisierung und Kriegsgefahr können latente Traumata wieder aufbrechen und die psychische Belastbarkeit der Menschen verringern, ergänzt die Psychotherapeutin und Traumaexpertin Michaela Huber. „Die Spaltung der Gesellschaft kann durch das Wiederaufleben dieser alten Ängste und Unsicherheiten verstärkt werden, da Menschen in solchen Situationen oft auf vertraute Muster und Überzeugungen zurückgreifen.“ Corona habe „ein Kollektiv-Trauma ausgelöst“, ist sie überzeugt. „Die ganze Corona-Krise kann man als eine Art gesellschaftlichen Schock bezeichnen.“
Gründe für die Traumatisierung habe es viele gegeben: rigorose freiheitseinschränkende Maßnahmen, Angst vor einem tödlichen Virus, Existenzangst derjenigen, die schlagartig alleingelassen waren, aber auch von Selbständigen, Geschäftsinhabern oder Künstlern. „Dann kam die ,Impfung’ und der entsprechende Druck, der Ausschluss der ,Ungeimpften’ und wie auch schon vorher die Ausgrenzung derer, welche die Maßnahmen als ungerechtfertigt kritisierten“, ergänzt Huber. Die Psychotherapeutin nennt diese Zeit „eine Zäsur in der bundesdeutschen Geschichte, die zu einer (fast) Gleichschaltung der öffentlich-rechtlichen und restlichen Mainstream-Medien geführt und eine tief verunsicherte und gespaltene Gesellschaft hinterlassen hat“.
Traumabewältigung
Bevor ein Trauma erfolgreich behandelt und damit ein Stück Lebensqualität zurückgewonnen werden kann, muss es zunächst erkannt werden – eine der größten Herausforderungen in der Traumabewältigung. „Es ist wichtig, dass die Betroffenen und ihre Familien die Existenz und die Auswirkungen der Traumata erkennen und anerkennen“, sagt Michaela Huber. Die nächsten Schritte seien therapeutische Unterstützung und Familienarbeit. „Der Einbezug der ursprünglich traumatisierten Generation in den Heilungsprozess kann hilfreich sein, um die familiären Dynamiken zu verstehen und zu ändern.“ Zudem könne eine gesellschaftliche Anerkennung der Vergangenheit und ihrer Auswirkungen dazu beitragen, dass die Traumata nicht länger tabuisiert bleiben und die Heilung gefördert wird.
Auch das Corona-Trauma könne nur durch Aufarbeitung und Versöhnung geheilt werden, ist Huber überzeugt: „Die Aufarbeitung darf nicht von denen gemacht werden, die für die Fehler der Corona-Zeit verantwortlich waren, weil sie einseitig informierten, Andersdenkende diffamierten und sanktionierten. Es müssen glaubwürdige, unabhängige Persönlichkeiten gefunden werden, die helfen, Pro und Kontra, Nutzen und Schaden der Corona-Zeit zu untersuchen, Opfer anzuhören, und das in aller Öffentlichkeit zeigen und diskutieren, wie es etwa in der Aufarbeitung des Apartheitsregimes in Südafrika geschehen ist.“
Hilfe zur Selbsthilfe
Experten wie Dami Charf bieten Hilfe zur Selbsthilfe an: „Alte Verletzungen und Traumata hinterlassen oft Lebensmuster und ein Lebensgefühl, das uns hilflos macht und uns von uns selbst und anderen Menschen abschneidet“, erläutert Charf. Der Traumatherapeut Gopal Norbert Klein hat die Methode Ehrliches Mitteilen entwickelt, bei dem Teilnehmer einer Gruppe darüber reden, was sie im Moment bewegt und die Anderen aufmerksam zuhören.
In der Traumatherapie kommen verschiedene Ansätze zur Anwendung; weit verbreitet ist die Methode des Somatic Experiencing (SE) von Peter Levine: Diese Methode arbeitet vor allem mit der körperlichen Reaktion auf traumatische Ereignisse und wendet sich dabei an das für Trauma zuständige autonome Nervensystem. Das sogenannte Neurogene Zittern ist ein Selbstheilungsreflex des Körpers, den man durch verschiedene Arten von Anstrengung oder Überanstrengung auslösen kann. Das Zittern ermöglicht dem Körper, sich von angesammelter muskulärer Anspannung zu befreien, die besonders nach belastenden Ereignissen wie einem Schock entstehen können.
Kollektive Traumaheilung
Thomas Hübl, Lehrer, Autor und internationaler Vermittler, entwickelte den Collective Trauma Integration Process für die Arbeit mit individuellen, generationenübergreifenden und kollektiven Traumata. In Großveranstaltungen brachte er etwa Tausende von Deutschen und Israelis zusammen, um den kulturellen Schatten, den der Holocaust hinterlassen hat, anzuerkennen, sich ihm zu stellen und ihn zu heilen.
Milaya Lodron hat diese kollektive Traumaheilung in einer Gruppe mit Thomas Hübl miterlebt. „Wenn eine Person eine individuelle Geschichte erzählt, geht eine Heilungswelle durch die Nervensysteme, die sich auf das Kollektiv auswirkt.“ In Zusammenarbeit mit Thomas Hübl befasste sich die Traumatherapeutin intensiv mit kollektiver Heilarbeit. Dass auch ein künstlerischer und spielerischer Zugang bei der Traumaarbeit möglich ist, zeigt Lodron gemeinsam mit der Schauspielerin und Theatermacherin Julia Höfler – zusammen haben sie die Initiative „Trau’ma Uns“ ins Leben gerufen. Traumaarbeit geschieht dort an einem Wochenende mit Hilfe von Improvisation, Meditation, Körperwahrnehmung und Bewusstseinsarbeit. Durch künstlerischen Ausdruck wird „nicht Gesehenes sichtbar und Unausgesprochenes hörbar“, wie die Initiatoren schreiben. „Wenn einzelne an sich arbeiten, wirkt sich das auf das Kollektiv aus“, ist Lodron überzeugt.
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