Vor einem Jahr trat die derzeit amtierende EU-Kommission, die zweite unter Ursula von der Leyen, offiziell ihr Amt an. Die Kommissionspräsidentin gefällt sich in der Rolle einer europäischen Herrscherin. Unter der wohlklingenden Forderung nach mehr „europäischer Souveränität“ trachtet sie danach, den Souverän in den Mitgliedstaaten, also die jeweiligen Völker, völlig zu entmachten.
von Peter Grimm
Seit sechs Jahren steht diese Frau an der Spitze der EU-Kommission. Und sie hat in dieser Zeit einen atemberaubenden Machtzuwachs für ihr Amt organisieren können. Dabei waren die EU-Funktionäre auf dem Weg der Entmachtung nationaler Parlamente und Regierungen ihrer Mitgliedstaaten auch schon 2019, als sie das Präsidentenamt von ihrem Vorgänger Jean-Claude Juncker übernahm, weit gekommen. Jener Herr Juncker hatte bereits zwanzig Jahre zuvor, also 1999, damals noch als luxemburgischer Ministerpräsident, öffentlich erklärt, welchem Prinzip die politische Führung der EU folgt. Der Spiegel berichtete seinerzeit zuerst über seinen seither oft zitierten Satz:
„Jean-Claude Juncker ist ein pfiffiger Kopf. ‚Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert‘, verrät der Premier des kleinen Luxemburg über die Tricks, zu denen er die Staats- und Regierungschefs der EU in der Europapolitik ermuntert. ‚Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.‘So wurde bei der Einführung des Euro verfahren, als tatsächlich kaum jemand die Tragweite der ersten Beschlüsse 1991 zur Wirtschafts- und Währungsunion wahrnehmen mochte. So ähnlich lief es jetzt wieder beim EU-Sondergipfel im finnischen Tampere, wo komplizierte Entscheidungen zur Justiz- und Rechtspolitik fielen. In wenigen Jahren werden die Mitgliedstaaten die Folgen spüren. Brüssel gibt dann die Mindeststandards für die Asylpolitik vor.“
Je mehr Macht die EU-Kommission bekommt, desto wirkungsvoller kann sie nach diesem Prinzip Politik gestalten und auf diesem Wege auch für weiteren Machtzuwachs sorgen. Rückblickend wirkt das Jahr 1999 in dieser Beziehung noch vergleichsweise harmlos. Viele deutsche Politiker versicherten dem Souverän, also dem Volk, dass die EU kein unkontrollierbarer Superstaat würde. Manch Ältere können sich vielleicht noch daran erinnern, wie treuherzig politische Verantwortungsträger damals versicherten, die EU sei ein Staatenbund und kein Bundesstaat. Damit galten Einwände von Skeptikern als abgetan, die befürchteten, es könne sich eine zu große Machtkonzentration in Brüssel entwickeln.
Damals betraf es 60 Prozent der Innenpolitik
Wahrscheinlich wollten viele vor 26 Jahren solche Beschwichtigungen auch noch glauben, dabei hätten sie lesen können, was der Spiegel seinerzeit im gleichen Artikel über die Anwendung der Juncker-Methode schrieb:
„Nach derselben Methode soll der Bau des Bundesstaates Europa weitergehen. Eigentlich gibt es den bereits – auch wenn das Karlsruher Bundesverfassungsgericht das nicht wahrhaben will und lieber von einem Staatenverbund spricht. (…) Das bundesstaatliche Phänomen in Brüssel ist noch ziemlich unfertig, funktioniert aber. Mindestens 60 Prozent der deutschen Innenpolitik, sagt sogar Europaskeptiker Edmund Stoiber, werden heute in Brüssel gemacht. Es werden sich, das lehrt der Blick zurück, die bundesstaatlichen Strukturen im neuen Jahrhundert verfestigen, mal schleppend, mal in Schüben wie bisher.“
Da lag der Spiegel zweifelsohne richtig. Zwar scheiterte der Versuch, den EU-Funktionären mittels eines „Vertrags über eine Verfassung von Europa“ weitere Kompetenzen zu übertragen, weil 2005 in Frankreich und den Niederlanden die Mehrheit der Wähler in Referenden dagegen stimmte. Aber 2009 trat dann der Vertrag von Lissabon in Kraft, der eine ähnliche Stärkung des EU-Apparats und die entsprechende Schwächung der Nationalstaaten vorsah, aber nicht mehr „Verfassung“ hieß, weshalb er ohne Volksabstimmungen ratifiziert werden konnte.
Als Ursula von der Leyen 2019 nach einer Absprache von Merkel und Macron zum ersten Mal EU-Kommissionspräsidentin wurde, übernahm sie ein bereits mächtiges Amt. Die EU-Kommission konnte schon damals Richtlinien beschließen, die – so sie nicht rechtzeitig im EU-Parlament gebremst wurden – den Mitgliedstaaten de facto konkrete Regeln vorschrieben. Sollten demokratisch gewählte Parlamente in den Mitgliedstaaten ein entsprechendes Gesetz nicht fristgemäß beschließen, drohen dem jeweiligen Staat Vertragsverletzungsverfahren und Bußgelder.
Da die meisten Medien immer noch vor allem die Arbeit der nationalen Regierungen und Parlamente ins Visier nehmen, die eigentlich das demokratische Mandat des Souveräns haben, wird das Treiben der Brüsseler EU-Funktionäre kaum angemessen wahrgenommen. Und das nutzt die EU-Kommission aus. (An dieser Stelle ist es wohl passend, Martina Binnig für ihre faktenreichen Artikel über EU-Pläne und EU-Beschlüsse auf Achgut zu danken. Heute beispielsweise hier.) Gern setzen die Brüsseler Funktionäre dabei auf lange Fristen. Bei der ersten Meldung über eine EU-Richtlinie reagiert fast jeder mit seinem Tagwerk gut ausgelastete Beobachter reflexartig mit dem Gedanken, dass noch viel Zeit vergeht, bis es damit ernst werden soll. Dann wird das Thema von anderen überlagert und taucht oft in der öffentlichen Wahrnehmung erst wieder auf, wenn die konkrete Umsetzung mit nationalen Gesetzen diskutiert wird. Doch dann ist es meist zu spät.
Viel Macht für eine Kommission, die eigentlich nur „Hüter der Verträge“ sein sollte und keine europäische Regierung, die sich Schritt für Schritt mehr Macht anmaßt. Doch Ursula von der Leyen wollte mehr als nur die Macht, die sie 2019 von ihrem Vorgänger bekommen hat. Sie schaffte es, von den Steuerzahlern der Mitgliedstaaten zusätzliche Mittel abzupressen, um diese dann nach eigenen Regeln über die EU verteilen zu können. Das Vehikel dafür war der Corona-Ausnahmezustand. Und weil sich ein Ausnahmezustand dazu eignet, eine bis dato unglaubliche Machtanmaßung auszuleben, schaffte sie es auch, von den EU-Regierungen das Mandat für die viele, viele Milliarden schwere Beschaffung der sogenannten Corona-Impfstoffe zu bekommen. Das Zustandekommen der entsprechenden Deals mit Pfizer war bekanntlich offenbar so heikel, dass alle Spuren der entsprechenden Kommunikation verschwinden mussten.
Immer das letzte Wort
Ursula von der Leyen wusste selbstverständlich auch, die Klimarettungs-Ideologie für eine Machtverschiebung in Richtung EU zu nutzen. Der „Green Deal“ ist schließlich ein Traum für alle Planwirtschaftsanhänger. Nach Beginn des Ukraine-Konflikt wurde die Unterstützung für Kiew schnell auch zum Vehikel, um beispielsweise Pläne für eine EU-Kriegswirtschaft salonfähig zu machen, in der aus Brüssel im Ernstfall auch verordnet werden könnte, wer was zu produzieren hat. „Transformation“ war und ist auch ihr ein beliebtes Schlagwort.
Niemand würde wohl behaupten, dass sie am Ende ihrer ersten Amtszeit mehrheitlich beliebt oder populär unter Europas Völkern war. Die Ergebnisse der Europawahl im letzten Jahr lassen sich eher als ein Votum zur Abkehr vom „Green-Deal“-Kurs verstehen, als eines für ein „Weiter so“. Dennoch bekamen sie Letzteres, vor allem in Form einer als alternativlos auftretenden EU-Kommissionspräsidentin.
Doch ist ihre zweite Amtszeit lediglich in Bezug auf zunehmende Machtkonzentration in ihrer Hand ein einfaches „Weiter so“. Von den Kommissaren in ihrer ersten Kommission ist beispielsweise keiner wieder in sein Amt gelangt. Es ist natürlich Sache der Mitgliedstaaten, welche Kommissare sie vorschlagen. Doch es wäre wohl naiv zu glauben, die EU-Kommissionspräsidentin hätte darauf keinen Einfluss. Der Wechsel dürfte ihr recht gewesen sein.
Daniel Goffart schrieb vor zehn Jahren zusammen mit Merkels späterer stellvertretenden Regierungssprecherin Ulrike Demmer ein Buch mit dem schönen Titel: „Kanzlerin der Reserve: Der Aufstieg der Ursula von der Leyen“. Jetzt würde man vielleicht besser von der Königin oder vielleicht sogar der Kaiserin der Reserve schreiben. Zu ihrem Umgang mit ihrer zweiten EU-Kommission, die jetzt auf ihr erstes Jahr zurückblicken kann, sagte Goffart dem Deutschlandfunk:
„Man merkt bei der zweiten Kommission auch an, dass sie die Zuständigkeiten so verteilt hat, dass alle Kommissare sich untereinander absprechen müssen und sich auch einigen müssen und sie am Ende immer das letzte Wort hat.“
Der Autor des Deutschlandfunk-Beitrags ergänzt:
„Neben von der Leyen darf niemand glänzen. So bekommt Handelskommissar Maroš Šefčovič bei Zoll-Verhandlungen mit den USA von der Leyens Stabschef Björn Seibert mitgeschickt.“
Die Machtumverteilung von den Nationalstaaten hin zur EU soll offenbar nicht die Macht der Kommissare stärken, sondern vor allem die der Kommissionspräsidentin.
Unsicher auch für Transformierer
In der letzten Zeit spricht diese wieder gern darüber, dass sie die „Souveränität Europas“ stärken möchte. Was die Zuhörer vor allem so verstehen sollen, dass sie sich nicht mehr so viel aus Washington in ihre Angelegenheiten hineinreden lassen möchte. Vor allem seit die Amerikaner auch öffentlich Probleme mit der Meinungsfreiheit und Zensurbestrebungen in der EU beklagen, schlägt ihnen aus dem EU-Apparat eher Ablehnung entgegen.
Aber was heißt es denn außerdem, wenn von der Leyen mehr Souveränität für die EU beansprucht? Wer ist denn der Souverän in der souveränen EU? In den demokratischen EU-Mitgliedstaaten ist diese Frage meist in den Verfassungen klar beantwortet. Der Souverän ist das jeweilige Volk. Aber es gibt kein EU-Volk. Oder möchte Ursula gern der Souverän sein, so wie einst absolutistisch herrschende Monarchen in ihrem Reich? Das soll ihr hier natürlich nicht unterstellt werden, obwohl sie zuweilen den Eindruck macht, dass sie schon gern Königin oder vielleicht besser noch Kaiserin von Europa wäre. Nach mehr Machtfülle strebt sie jedenfalls weiterhin ehrgeizig und wird dies auch noch bis zum Ende ihrer Amtszeit tun, wenn die EU in der vertrauten Form noch nicht so lange durchhält. Es gibt einige EU-Länder in denen die EU-Skeptiker beim jeweiligen Souverän immer mehr Zuspruch gewinnen. Das könnte Ursulas Traum von der EU-Souveränität platzen lassen. Denn auch das gehört zur „Transformation“, auch wenn es die Transformierer so nicht gewollt haben: Die Zukunft ist für alle, auch für sie, sehr viel unsicherer und unberechenbarer geworden. Zumindest, so lange noch frei gewählt werden kann.
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