Hintergründe

Geschredderte Stasi-Unterlagen: 15.500 Säcke, viele Fragen und ein ungeheurer Verdacht

Geschredderte Stasi-Unterlagen: 15.500 Säcke, viele Fragen und ein ungeheurer Verdacht
Geschredderte Stasi-Unterlagen in der Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde in Neubrandenburg

Seit Jahren werden keine Stasi-Akten mehr rekonstruiert, obwohl dies technisch möglich wäre. Das Fraunhofer-Institut macht nun in einem Brief auf das lahme Verhalten von Bundesregierung und Stasi-Unterlagenbehörde aufmerksam. Die AfD wittert einen Skandal und hat eine Vermutung über das Motiv für die „jahrelange Verschleppung“.

von Lukas Steinwandter

Mehr als 111 Kilometer Stasi-Unterlagen, Tausende Fotos und Tonträger sind vergangene Woche offiziell in die Verantwortung des Bundesarchivs überführt worden. Die Stasi-Unterlagenbehörde, die die Daten knapp 30 Jahre lang verwaltete, ist geschlossen. Doch noch immer warten rund 15.500 Säcke zerrissener Stasi-Unterlagen auf ihre Rekonstruktion. Aber seit einigen Jahren steht der Prozeß still – und das wirft Fragen auf.

Daß es die geschredderten Papiere überhaupt noch gibt, ist Verdienst und Vermächtnis jener DDR-Bürger, die ab dem 4. Dezember 1989 Stasi-Dienststellen besetzten, um die heimliche Aktenvernichtung zu verhindern. Die Stasi hatte Anfang November begonnen, in großem Umfang Dokumente zu zerstören, um beispielsweise kompromittierende oder illegale Praktiken zu vertuschen sowie geheime Quellen oder andere inoffiziellen Verbindungen zu schützen.

Die sogenannten Verkollerungsanlagen reichten jedoch nicht aus, um die Masse an Dokumenten in kürzester Zeit für immer zu vernichten. Also begannen die Mitarbeiter im Staatssicherheitsdienst, die Akten per Hand zu zerreißen. Die Schnipsel sollten anschließend in Garagen und Höfen mit Wasser übergossen und zu Papierbrei verarbeitet werden. Zudem wurden Dokumente verbrannt oder per Reißwolf geschreddert. Durch die Besetzung der Stasi-Dienststellen konnten 16.000 Säcke zerrissener Akten gerettet werden.

Institutsleiter wendet sich mit kritischem Brief an Kulturausschuß

Ab 1995 begannen vorwiegend Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) im bayerischen Zirndorf mit der händischen Rekonstruktion der Akten. 2015 wurden diese jedoch wegen der Flüchtlingswellen ins Bamf zurückbeordert. In den zehn Jahren konnten 500 Säcke per Hand gepuzzelt werden. Experten rechneten aus, wie lange es dauern würde, wenn jeder Mitarbeiter etwa drei Säcke pro Jahr rekonstruieren könnte: 640 Jahre.

Bereits im Jahr 2000 stimmte der Bundestag dafür, die Erschließung durch den Einsatz von IT-Verfahren zu erleichtern. Vier Jahre später konnte das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) erste Erfolge mit dem sogenannten ePuzzler nachweisen. Nach weiteren drei Jahren erhielt das Institut einen entsprechenden Forschungsauftrag.

Seitdem geriet die digitale Rekonstruktion aber immer wieder ins Stocken, seit 2018 passiert nichts mehr. Das Fraunhofer IPK wandte sich vor rund zwei Wochen in einem Brief an den Kulturausschuß des Bundestags. In dem Papier, das der Wochenzeitung Junge Freiheit vorliegt, informiert Institutsleiter Eckart Uhlmann die Abgeordneten über den Stand der virtuellen Rekonstruktion der Unterlagen.

Bundestag genehmigte nicht vollständige Summe für Scanner

Das Schreiben liest sich teilweise wie eine diplomatisch formulierte Kritik an den involvierten Politikern in Bundestag und Bundesregierung sowie an der Stasiunterlagenbehörde. Der Projektverlauf sei „stets durch lange Unterbrechungen gekennzeichnet“ gewesen, was „in hohem Maße die Entwicklung einer neuartigen und weltweit einzigartigen Technologie“ erschwert habe. Dennoch sei es den Technikern 2014 gelungen, die Fertigstellung des ePuzzler 2014 erfolgreich abzuschließen.

Damals sei es das Ziel des Fraunhofer IPK gewesen, den alten Vertrag zum Abschluß zu bringen und für die weitere Projektphasen einen neuen auszuhandeln. „Trotz der Zusagen des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen dies genauso umzusetzen, ist bis heute der alte Vertrag nicht abgeschlossen worden. Die letzten Zahlungen an das Fraunhofer IPK erfolgten 2014, obwohl wir bis 2016 Lektorenplätze aufrechterhalten und betreuen mußten und im Verlauf der letzten Jahre mehrere Male umfangreiche Projektskizzen erstellt haben.“ 2018 habe das Institut den jüngsten Projektvorschlag unterbreitet, dieser sei aber mittlerweile wieder veraltet.

Uhlmann betont in seinem Brief die Relevanz eines speziell entwickelten Scanners, um die Schnipsel zu digitalisieren. Zuvor sei eine schnellere Rekonstruktion nicht an der Software, sondern am Scanner gescheitert. Ab 2013 konzipierte das Institut deshalb auf Bitten des Bundestags drei Varianten einer Scanstraße, wovon das Parlament Ende 2014 die „mittlere Variante“ für sechs Millionen Euro wählte. Doch weil der Bundestag nur zwei Millionen genehmigte, konnte die Scanstraße 2015 nicht wie geplant verwirklicht werden.

Seit Herbst 2019 laufen erneut Verhandlungen – bislang ohne Ergebnis

Stattdessen entwickelte das Fraunhofer IPK im selben Jahr ein neues Projektszenario mit einer reduzierten Scananlage für zwei Millionen Euro. Im September stoppte der Bundesrechnungshof allerdings die virtuelle Rekonstruktion. Die Kosten seien zu hoch und unkalkulierbar, hieß es. Nachdem das Prüfverfahren Ende 2017 abgeschlossen war, legte das Institut Anfang 2018 ein weiteres Projektszenario vor. Seit Herbst 2019 laufen erneut Vertragsverhandlungen – bislang ohne Ergebnis.

Am Ende seines Briefes weist Uhlmann noch einmal auf den Erfolg der Scantechnologie hin, mit der beispielsweise vor kurzem zerstörte Banknoten für die Bundesbank rekonstruiert worden seien. Dies kann auch als Wink an die verantwortlichen Politiker verstanden werden: Schaut her, wir können unseren Teil der Abmachung erfüllen, nun gebt uns endlich den Auftrag und einen neuen Vertrag. Uhlmann war auf Anfrage der JF bislang nicht zu erreichen.

Der forschungspolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Bundestag, Götz Frömming, bezeichnet die „jahrelange Verschleppung“ der Rekonstruktion gegenüber der JUNGEN FREIHEIT als „politischen Skandal“. Trotz anderslautender Zusagen, wonach die Stasi nicht das letzte Wort darüber haben dürfe, welche Dokumente der Nachwelt erhalten bleiben und welche nicht, „wurde das Projekt an die Wand gefahren“.

„Man muß sich fragen, welche Geheimnisse die Stasi-Säcke bergen“

Daß dem Fraunhofer-Institut der schwarze Peter zugeschoben werden soll, versteht der AfD-Politiker nicht. Das Institut habe die Funktionsfähigkeit des ePuzzlers nachgewiesen und auch die vertragsrechtlichen und finanziellen Hürden hätten überwunden werden können. „Dafür fehlte den Verantwortlichen in der Stasi-Unterlagenbehörde und der Bundesregierung aber offensichtlich der politische Wille. Man muß sich fragen, welche Geheimnisse die Stasi-Säcke bergen, von denen wir nichts erfahren sollen.“

Daß in den geschredderten Akten brisante Informationen enthalten sein könnten, ist durchaus wahrscheinlich. Die Stasi hatte aus ihrer Sicht relevante Dokumente zuerst zu vernichten versucht. Wenn das Fraunhofer-Institut keine nennenswerte Schuld daran trägt, daß es mit der Rekonstruktion der Akten so schleppend vorangeht, bleiben nur noch zwei Akteure übrig: Die Stasi-Unterlagenbehörde, die es nicht mehr gibt, und die Bundesregierung.

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