„Ihr werdet Oma umbringen“ – Kinder zu Schuldträgern gemacht: Ein geleaktes Strategiepapier des Innenministeriums zeigt, wie kalt und gezielt mit der verletzlichsten Seele der Gesellschaft gespielt wurde.
Im geleakten Strategiepapier des Innenministeriums vom 18. März 2020 fand man über Kinder in der Corona-Zeit diesen Satz: „Wenn sie dann ihre Eltern anstecken und einer davon qualvoll zu Hause stirbt, und sie dann das Gefühl haben, schuld daran zu sein, weil sie vielleicht vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann“. Überschrieben war die Passage mit der Formulierung: „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen …“.
Seitdem waren Sätze über die Rolle der Kinder in der Corona-Pandemie fester Bestandteil im Horrorkabinett verbaler Entgleisungen. Es ging um Kinder, die unter dem Weihnachtsbaum ihre Großeltern infizieren könnten; danach wurde das nächste Worst-Case-Szenario mit düstersten Worten beschworen, denn auch zu Ostern würden die Familiengeschwader mit diesen tückischen Kindern zusammenkommen. Alle diese Szenarien, in denen Kinder zu potenziell todbringenden Hauptakteuren hochstilisiert wurden, schürten Angst, Panik und vor allem Schuldgefühle bei Kindern.
Die Verletzlichkeit der Kinderseele
Eine ähnliche Aggressivität fand man übrigens bei Peter Sloterdijk. In einem Interview-Band wurde er mit dieser Äußerung zitiert: „Und wenn diese verdammte Corona-Krise zu irgendetwas gut sein soll, dann vermutlich dazu, ein Bewusstsein davon hervorzurufen, dass wir von Grund auf in ko-immunitären Verhältnissen existieren. Dabei ist niemand zu jung, das zu verstehen. Schon ein kleiner Junge begreift, dass er seine alten Großeltern nicht gefährden soll, wenn man ihm erklärt, was Mikroben sind.“
Diese emotionale Ladung traf auf die jüngsten und besonders verletzlichen Mitglieder unserer Gesellschaft, die unseres unbedingten Schutzes bedürfen und die sich in keiner Weise wehren konnten gegen solcherlei Anwürfe. In der anderen Richtung wurde das Schuldnarrativ nicht gepflegt. Hat man je die Gefahren beschrieben, die agile Großeltern ins Haus ihrer Kinder und Enkelkinder tragen könnten? Und entwarf man das Szenario einer Oma im Pflegeheim, die vielleicht ihren gesamten Familienbesuch ansteckt, weil sie unerkannt infiziert ist? Die Alten galt es zu schützen, den Kindern pflanzte man Schuldgefühle ein.
Wenn wir Kinder in die Pflicht nehmen für unsere Bedürfnisse – hier die Absicherung und Bewahrung unserer Gesundheit –, dann ist das nichts anderes als eine neu erfundene kindliche Fürsorgepflicht gegenüber Eltern und Großeltern. Wohlgemerkt: Die Pflege der alten Eltern durch ihre Kinder ist keine Pflicht, und diese „Kinder“ sind längst erwachsen. Niemals hätte man den Umstand, dass Kinder Erwachsene anstecken könnten, im Zusammenhang mit einem Angst- und Schuldnarrativ schriftlich fixieren dürfen, weil die Erzeugung von Angst und Schuld damit zu einer akzeptierten und scheinbar legitimen Argumentationsgrundlage wurde.
Das war – insbesondere gegenüber Kindern – nicht nur zutiefst unmoralisch, es verletzte die grundlegenden Gebote von Schutz und Schonung, die unser aller Maßstab beim Umgang mit Kindern sein müssen. Keine Seele ist so verletzlich wie eine Kinderseele.
Es braucht Demut vor der Energie des jungen Lebens
Wer offen darüber redet, dass es als Mittel der Viruseindämmung zu begrüßen ist, wenn Kinder sich gegenüber ihren erwachsenen Bezugspersonen schuldig fühlen, weil sie aufgrund eines eigenen Versäumnisses deren Tod verursachen könnten, der nimmt billigend in Kauf, dass er Kindern damit schweren seelischen Schaden zufügt. Wer eine derartige Haltung gegenüber Kindern pflegt, der fühlt auch so.
Wer also meint, dass Kinder sich beim Vergessen von Hygienemaßnahmen gegenüber Erwachsenen schuldig fühlen sollen, der trägt damit ein Gefühl des Misstrauens und des Argwohns gegenüber Kindern in sich. Kinder erspüren das, sie nehmen weitaus zuverlässiger als jeder Erwachsene die Gefühle wahr, die ein Mensch ausstrahlt, der sich im Vorsicht-Kinder-Modus befindet. Es gehört sich schlicht nicht, wenn die ältere Generation, die ihr Leben schon eine ganze Weile lang gelebt hat, gegenüber denen, die das ganze Leben noch vor sich haben, lautstark den Anspruch erhebt, gegen kindliche Lebensfreude und Lebensgier geschützt werden zu müssen.
Mir drängt sich in diesem Zusammenhang das Bild einer alten, kranken Frau in einer mittelalterlichen Jäger- und Sammler-Gemeinschaft auf, die, ihres nahenden Endes gewahr, die Gruppe verlässt, um allein zu sterben. Sie hindert die Gemeinschaft der Jüngeren, Stärkeren nicht am Weiterkommen und sichert damit den Fortbestand und das Überleben der Gruppe.
Das Bild mag grausam sein, aber für mich zeigt sich in ihm in geradezu archaischer Weise das Verhältnis des Alten zum Jungen: Wir Älteren sollten uns zurückhalten und dem jungen Leben so weit wie nur möglich Raum schaffen, damit es sich entfalten kann. Wir sollten uns bremsen, wenn wir den Impuls verspüren, das Junge, Aufstrebende am Sprießen und Wachsen hindern zu wollen.
Das Pendant zur Jugend mit ihrer Demut vor der Weisheit des alten, erfahrenen Lebens ist die Demut der Älteren vor der überschäumenden Energie und Unbeschwertheit des jungen Lebens. Unsere Kinder sind nicht die Steigbügelhalter für unser Bedürfnis nach Überlebenssicherheit.
Wie konnte dieser Text so glatt durchgehen?
Fremdscham empfinde ich nicht nur gegenüber den Menschen, die die zitierten Sätze für das Strategiepapier mit übergroßer Fabulierlust formuliert haben. Ich schäme mich auch für die Politikerinnen und Politiker dieses Landes, die die Adressaten des Textes waren, die ihn lasen und die Inhalte bereitwillig verkündeten.
Wie konnte dieser Text so glatt durchgehen? Viele Politiker sind über 50 Jahre alt und daher aufgewachsen in einer Zeit, in der es mit den Kinderrechten und der Kinderwürde nicht zum Besten bestellt war. Ferner: Auffällig viele Politiker scheinen keine Kinder zu haben, was angesichts der hohen Arbeitsbelastung vielleicht sogar zu begrüßen ist. Von den meisten Politikern wird man daher kein tiefgreifendes Verständnis für die Empfänglichkeit und Verletzlichkeit der kindlichen Psyche und für das besondere Schutzbedürfnis der kindlichen Seelen-Landschaft erwarten können. Aber wie ist es um die vielen anderen Erwachsenen in diesem Land bestellt? Wo blieben die entsetzten Aufschreie angesichts der verbalen Entgleisungen zulasten unserer Kinder und deren unerträglicher Inpflichtnahme, nachdem das Geheimpapier offengelegt war?
Ein altbekanntes Muster
Leider hat das Erzeugen von Angst- und Schuldgefühlen bei Kindern eine jahrhundertealte Tradition. Hieran knüpft das Strategiepapier unmittelbar an. Angst und Schuldgefühle (inklusive schlechtes Gewissen) von Kindern gegenüber ihren Eltern stehen ziemlich weit oben auf der Rangliste der therapiebedürftigen Emotionen bei Kindern. Kaum ein anderes Gefühl ist so nachhaltig und hält sich so hartnäckig wie die Schuld.
Die Autoren des Strategiepapiers wussten das und spielten ein teuflisches Spiel, das im Wesentlichen dem Spiel entsprach, das Eltern schon immer mit ihren Kindern gespielt haben – mit dem Unterschied, dass Eltern oft nicht wissen, was sie tun. Die Verfasserinnen und Verfasser des Papiers holten ein altbekanntes Muster hervor, mit dem man sehr zuverlässig dafür sorgt, dass auch künftige Generationen von Psychotherapeutinnen ihr Auskommen haben werden.
Nicht zufällig haben Depressionen und Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen seit Corona extrem zugenommen. Die Autoren machten sich die dunkelsten und niedersten Instinkte und Antriebskräfte von Menschen zu eigen, indem sie mit voller Absicht Gefühle schürten, die dem arg- und wehrlosen Kind suggerierten, dass es bei seinen Eltern und Großeltern unentrinnbar in der Schuld steht. Kurzfristigen Dispens gibt es allenfalls, wenn das Kind bei den Erwachsenen durch Wohlverhalten für das gute Gefühl von Sicherheit und Sorglosigkeit – sprich Angstfreiheit – sorgt.
Ein Zeichen emotionaler Unreife
Der Akteure, die so souverän auf dieser Klaviatur gespielt haben, haben das Angst- und Schuldprinzip als Methode des Krisenmanagements und damit als pseudolegitime Botschaft nonchalant in die ganze Gesellschaft getragen. Bedarf also die ganze Gesellschaft einer Langzeit-Therapie, die dafür sorgen möge, dass niemand von uns in einer fernen Zukunft das Heraufbeschwören von Angst und Schuld nötig haben wird?
Angst und Schuld sind aus evolutionärer Sicht ein unschlagbares Team, wenn es ums Überleben geht: Wer mit Angstmache gegenüber Dritten hantiert, zeigt damit nur seine eigene Angst, die er mit vermeintlichen Sicherheitsvorkehrungen, die diese Dritten zu befolgen haben, zu bewältigen gedenkt.
Die Sache mit der Schuld ist komplizierter: Entlastung von Schuld erfolgt, wenn überhaupt, nur gegen Entschuldigung des Regelverletzers, falls ihm danach Entschuldung durch Verzeihen gewährt wird. Ohne Vergebung erfolgt als Strafe für den Regelverstoß der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Der vorübergehende Ausschluss aus der Gemeinschaft mit dem Ziel der Wiedereingliederung ist also der ursprüngliche Sinn von Schuld.
Heutzutage geschieht Ausschluss – nicht weniger wirkungsvoll – qua Ausgrenzung bzw. Liebesentzug. Wer mit Schuld hantiert, möchte daher auf einer tieferen Ebene diejenigen, die nicht die von ihm aufgestellten Sicherheitsregeln befolgen, aus der Gemeinschaft ausschließen („Verzeihen“ will Jens Spahn im Zusammenhang mit Corona pikanterweise nur sich selbst).
Psychologisch und emotional ging es demnach um nichts Geringeres als den proklamierten potenziellen Ausschluss von Kindern aus unserer Schutz- und Fürsorgegemeinschaft. Nur am Rande sei erwähnt, dass dieses fatale Vorgehen die fehlende Auseinandersetzung der gesamten westlichen Erwachsenengenerationen mit dem eigenen Sterben und dem Tod zeigt – ein Zustand emotionaler Unreife, mit dem wir durch Corona nicht nur keinen Schritt weitergekommen sind, sondern der, ganz im Gegenteil, in der Indienstnahme der Kinder für unser aller Überleben seine pervertierte Fortsetzung und Übersteigerung fand.
Mechtild Blankenagel ist Autorin und als systemische Beraterin in Berlin tätig. Vor ihrer Ausbildung zur systemischen Beraterin für Paare, Familien und Einzelpersonen hat die promovierte Juristin viele Jahre als Rechtsanwältin gearbeitet.
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