Deutschland

Freilerner: Bildung ohne Schule

Bildung ohne Schule
Freilerner-Konzept: Was spricht dafür und was dagegen?

In Deutschland gibt es Schätzungen zufolge 1.000 Freilerner-Kinder, die unter Anleitung ihrer Eltern lernen, ohne eine Schule zu besuchen. In Österreich sind es rund 150, dazu kommen dort einige Tausend sogenannte „Homeschooler“. Was steckt dahinter?

von Susanne Wolf

„Mit großem Bedauern stellen wir fest, dass der im Staatsgrundgesetz dem öffentlichen Schulwesen gleichgestellte häusliche Unterricht, mit bereits im Jahr 2022 vollzogenen und jetzt neuerlich geplanten Verschärfungen der gesetzlichen Grundlagen, offenbar so unattraktiv und so ungleich wie möglich gestaltet werden soll.“

Die österreichische Initiative Freie Bildungswege verfasste im März 2023 einen offenen Brief an das Bildungsministerium. Der Hintergrund: während der Corona-Lockdowns und den nachfolgenden Maßnahmen wie Masken und Tests war die Zahl der Schulabmeldungen um das Doppelte angestiegen. Anders als in Deutschland ist in Österreich der häusliche Unterricht als Grundrecht im Verfassungsrang verankert.

Die Behörden reagierten auf die Schulabmeldungen mit den genannten Verschärfungen: „Die derzeit laufenden verwaltungsrechtlichen Dauerbestrafungen und angedrohte Entzüge der Obsorge durch die Behörden, in einer in der zweiten Republik noch nie dagewesenen Art und Weise, sowie Verschärfungen bei (Externisten-)Prüfungsgegebenheiten missachten hier sowohl das Kindeswohl als auch die verfassungsrechtlich festgelegte Entscheidungsfreiheit der Eltern und Kinder in Bezug auf Bildung“, heißt es weiter im Offenen Brief. Aufgrund der Drohungen seitens der Behörden sei die Zahl der Schulabmeldungen wieder zurück gegangen, kritisiert Alexandra Terzic-Auer von der Initiative Freie Bildungswege. „Seit der Häufung von Schulabmeldungen ab 2020 ersinnen die Ämter alle paar Wochen neue Restriktionen für den häuslichen Unterricht.“

Das österreichische Bildungsministerium reagierte auf den offenen Brief mit Beruhigungsversuchen: „Wir sehen in den jüngsten punktuellen Änderungen der gesetzlichen Grundlagen für den häuslichen Unterricht keine unzumutbaren Verschärfungen. Sie dienen vielmehr der Rechtsklarheit und –sicherheit, der Qualitätssicherung des häuslichen Unterrichts.“ Die Verfasser des offenen Briefes kontern: „Dies zeigt uns erneut ganz deutlich, wie sehr sich die Wahrnehmung der Verwaltung von der Lebensrealität der Familien im häuslichen Unterricht unterscheidet.“

Frei lernen

Dass im Schulsystem einiges im Argen liegt, ist seit Jahren bekannt, in Österreich wie auch in Deutschland. Die Probleme sind vielfältig: LehrermangelBurnout bei Lehrkräften, marode Schulgebäude, Unterrichtsausfall , hohe Abbrecherquoten und absinkendes Bildungsniveau. Dennoch ist der politische Wille zu Reformen gering. Zugleich werden Eltern, die ihre Kinder eigenverantwortlich bilden möchten, Steine in den Weg gelegt. Das sogenannte Freilernen ist in beiden Ländern gesetzlich verboten, die Schulpflicht gilt bis zur 9. Schulstufe, in manchen deutschen Bundesländern bis zur 12. Schulstufe.

Freilernen ist eine Entlehnung des englischen Begriffes Unschooling, den der US-amerikanische Lehrer und Autor John Holt geprägt hat. In seinem 1974 erschienenen Buch „Escape from Childhood“ fordert Holt das Recht der Kinder, über ihr Lernen selbst zu bestimmen und entscheiden zu dürfen, ob sie eine Schule besuchen wollen. Holt begründet dies damit, dass die Lernfreiheit Teil der Gedankenfreiheit sei.

„Freilerner sind Menschen, die sich von zu Hause aus frei und in eigener Verantwortung bilden. Das heißt, frei lernende Kinder werden nicht zu Hause nach Lehrplan unterrichtet“, heißt es auf der Homepage des Bundesverbandes Natürlich Lernen (BNL), dem größten Verein für Freilerner in Deutschland. Eltern von Freilernern vertrauen auf die natürliche Entwicklung ihrer Kinder. Sie wissen um die naturgegebene Lernfreude von Kindern und gehen davon aus, dass sie lernen werden, was für sie gerade wichtig ist – in ihrem eigenen Tempo. Freilernen bedeutet auch, den eigenen Talenten nachzugehen und zu Fertigkeiten auszubauen.

Einer der bekanntesten Freilerner ist André Stern. In seinem Buch „… und ich war nie in der Schule“ beschreibt der Sohn des Pädagogen und Malort-Erfinders Arno Stern, wie er sich in seiner Kindheit und Jugend verschiedenste Fertigkeiten beibrachte, wie etwa das Metalltreiberhandwerk, Tanz oder Fotografie. Später begann er sich für Musik zu interessieren, lernte Gitarre zu spielen und las Biographien von Komponisten. Heute arbeitet André Stern als Musiker, Komponist, Gitarrenbauer, Referent und Journalist. Er hat zahlreiche Bücher verfasst und ist Vater zweier Kinder, die ebenfalls keine Schule besuchen.

Empathie und Verantwortungsbewusstsein

„Freilernen ist eine radikal andere Haltung gegenüber dem jungen Menschen“, sagt Sigrid Haubenberger-Lamprecht vom österreichischen Verein Freilerner. „Zudem geht unsere Vorstellung von Bildung über die reine Informationsvermittlung hinaus. Der Gedanke, dass sich Kinder weniger ‘gebildeter’ Eltern deshalb zur Wissensvermittlung an einen institutionalisierten Ort wie die Schule zu begeben haben, weil sie nur dort Lehrer und Lernmaterial antreffen, ist in unserer Zeit des Massenzugangs zum Internet und zur Künstlichen Intelligenz (KI) obsolet geworden.“ Ein Mensch sei hoch gebildet, wenn er folgende drei Fähigkeiten entwickelt habe: vernetztes Denken, Mitgefühl, Selbstreflexion.

Diese Fähigkeiten sind auch gefragt, um Kindern das Freilernen zu ermöglichen, räumt Haubenberger-Lamprecht ein: „Eltern brauchen einen hohen Grad an Reflexionsbereitschaft – etwa im Hinblick auf eigene Erfahrungen beim Lernen, Einfühlungsvermögen, Vertrauen in die individuellen Lernprozesse, die Bereitschaft, die eigenen Lebensumstände an die Rhythmen des jungen Menschen anzupassen.“

Studien zum Freilernen, wie etwa des Psychologen Peter Gray, zeigen, im Gegensatz zur weitverbreiteten Meinung, erhebliche Leistungsvorteile gegenüber Regelschülern, und zwar in allen gemessenen Kompetenzen. Auch hinsichtlich der Sozialkompetenzen zeigen die Untersuchungen deutlich bessere Ergebnisse. Hier wurden überdurchschnittliche Werte für emotionale Intelligenz, Empathie, Verantwortungsbewusstsein, Flexibilität oder Beziehungsqualität festgestellt.

In Ländern wie Großbritannien, Neuseeland sowie in Teilen Kanadas und der USA ist Freilernen nicht nur erlaubt, sondern wird aufgrund von guten Erfahrungen auch gefördert. Im deutschen oder österreichischen Gesetzbuch ist diese Art der Bildung jedoch nicht vorgesehen und Eltern, die diesen Weg gehen, machen sich strafbar.

Dennoch entscheiden sich zahlreiche Familien für freies Lernen und finden individuelle Lösungen, es ihren Kindern zu ermöglichen. Manche wandern dafür sogar aus, wie Sylvia Dallhammer, die 2020 mit ihrer Familie Deutschland verließ und nun in Dänemark lebt – einem Land ohne Schulpflicht. Ihre Kinder waren mit dem Leistungsdruck an der Schule überfordert, berichtet sie, heute lernten sie das, was ihnen gerade wichtig erscheint. „Wir haben Projekte im Garten, gehen ins Museum und reden über das Leben“, so Dallhammer. Die Tochter (18) macht gerade den Führerschein, Sohn Noah (13) lernt mit einer Privatlehrerin Dänisch. Dallhammer erzählt, dass es schmerzhaft gewesen sei, die Verachtung und Ablehnung anderer Eltern zu spüren. „Du wirst mit deinen eigenen Ängsten und Prägungen konfrontiert, wenn du diesen Weg gehst.“

Was will das Kind?

„Wenn das Kind nicht zur Schule geht, fällt das gleich unter Kindeswohlgefährdung, egal wie das Kind dazu steht“, sagt Erik Vater, der als Berater für Familien, Lehrer und Mitarbeiter in Behörden deutschlandweit tätig ist. Vaters 12-jähriger Sohn ging vier Jahre lang nicht zur Schule, was eine Anzeige wegen Verletzung der Schulpflicht und die Forderung eines Bußgeldes zur Folge hatte. „Es gibt zwei Verfahren“, erklärt Vater: „Zum einen ein Ordnungswidrigkeitsverfahren, das am Amtsgericht verhandelt wird und zum anderen das familiengerichtliche Verfahren aufgrund des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung, dem das Jugendamt nachgeht.“ Im Fall der Familie Vater entschied das Familiengericht, dass keine Kindeswohlgefährdung vorliege. „Mit der zuständigen Familienrichterin hatten wir nur Briefkontakt, mit dem Jugendamt waren und sind wir in gutem, einvernehmlichen Austausch“, so Vater. Alle Beteiligten, vom Schulamt bis zum Familienrichter, hätten viel Verständnis für die Entscheidung der Familie gehabt. „Doch letztendlich beriefen sich alle darauf, dass sie sich an die Gesetze halten müssten.“

Deutsche Behörden äußerten sich auch auf mehrfache Nachfragen von Anonymous News nicht zur Sache. Nicht alle Freilerner-Eltern machen so gute Erfahrungen, die Einstellung der Behörden zum Freilernen ist sehr unterschiedlich und individuell geprägt. „Die Familien hier machen diverse Erfahrungen mit den Behörden, von ganz schlecht bis ganz gut, bis zum Entzug der Obsorge“, erklärt Erik Vater. Sein Sohn besucht heute eine Waldorfschule, ebenso wie der jüngere Sohn, der von Anfang an zur Schule ging. „Dort gibt es viel weniger Leistungsdruck, der heute ja schon in der Grundschule üblich ist“, so Vater.

Für das Bußgeld kam eine Solidaraktion des BNL auf, bei der Mitglieder des Vereins zusammenlegten. „Es gibt ein großes Netzwerk an Menschen, die ihre Erfahrungen weitergeben und beispielsweise auch helfen, wenn das Jugendamt kommt“, erklärt Vater. In Deutschland bietet neben dem BNL auch der Verein Freilerner Solidargemeinschaft Unterstützung und Beratung zum Thema an; der Freilerner Kompass führt eine statistische Erhebung durch.

Entzug der Obsorge

Ähnliche Erfahrungen machte Sigrid Haubenberger-Lamprecht, Mutter zweier Söhne. Jonas, heute 18, besuchte nur ein Jahr lang eine Schule, Elias (15) musste nach einem Beschluss des Jugendamts ab 10 Jahren zur Schule gehen. „Da es sich um eine freie Schule handelte, passte das für beide Söhne gut.“ Das Gutachten des Jugendamts hatte sich über Jahre hingezogen, der Familie wurde eine Sozialarbeiterin zugewiesen. „Davor wurde ein Antrag auf Entzug der Obsorge gestellt, ohne dass jemand bei uns zuhause gewesen wäre.“

Haubenberger-Lamprecht hatte in einer Emmi Pikler-Spielgruppe die Erfahrung gemacht, dass Spielen und Lernen nicht voneinander getrennt werden können. Sie entschloss sich dazu, ihre Kinder zuhause zu begleiten und machte eine Malort-Ausbildung nach Arno Stern. „Junge Menschen lernen immer, unabhängig vom Ort, an dem sie sich gerade befinden.“ Sie vermeidet den Begriff „Kind“, da es sich um Menschen „mit ebensolchen Rechten wie Erwachsene“ handle.

Ein pädagogisches Gutachten ergab, dass Jonas die Defizite in Mathematik nicht aufholen würde. Heute macht der 18-jährige eine Lehre in Mechatronik und habe kein Problem mit mathematischen Aufgaben. „Er hat sich sogar für eine Lehre mit Matura (Abitur, Anm.) entschieden“, sagt seine Mutter.

Gemeinsam mit anderen engagierten Mitgliedern des Vereins Freilerner hat sie ein Positionspapier mit Alternativen zur vorgeschriebenen Externistenprüfung verfasst und an verschiedene Behörden geschickt. „Die Reaktionen zeigten, dass es keinen politischen Willen für Veränderung gibt“, so Haubenberger-Lamprecht. Stattdessen werde man schnell in die Schublade „Sekte“ oder „Ideologie“ gesteckt.

So wie Sigrid Haubenbergers Sohn steht es Freilernern offen, falls der Wunsch nach einem Studium besteht, in Österreich die Studienberechtigungsprüfung zu absolvieren beziehungsweise in Deutschland die Hochschulzugangsberechtigung zu erlangen.

Lernorte

„Die öffentliche Hand ist gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit freie und selbstbestimmte Bildung für alle, die das wünschen, möglich ist“, ist Haubenberger-Lamprecht überzeugt. „Ein Bildungsgutschein für jedes Kind würde das Schulsystem sehr rasch von unten erneuern.“ Zudem plädiert sie für die Schaffung neuer Lernorte, wo eine freie Bildung möglich ist.

Der Philosoph Bertrand Stern etwa schreibt, dass es Orte der Bildung und Orte der Sozialisation geben solle. Der Mensch bilde sich zwar überall, dennoch könne es spezifische Zentren dafür geben – für soziale Bedürfnisse sowie für die verschiedensten Arten von Fachthemen. Die Struktur, die es dazu braucht, beschreibt Stern mithilfe des Beispiels der Bücherei: Hier gibt es eine Vielfalt an angebotenen Büchern und Medien, Tische und Sitzgelegenheiten, die von allen Menschen genutzt werden können. Das Personal ist in der dienenden Funktion.

An der Sudbury Valley School im US-Bundesstaat Massachusetts entscheiden die Schüler im Alter von vier bis 19 Jahren selbst, was, wann und wie sie lernen oder womit sie ihre Zeit verbringen. Unterrichtskurse im herkömmlichen Sinn kommen nur zustande, wenn Schüler dies ausdrücklich wünschen. Hannah Greenberg, Gründerin und Mitarbeiterin der Schule, schreibt in ihrem Buch „Die Sudbury Valley School. Eine neue Sicht auf das Lernen“: „Sie (die Kinder, Anm.) nehmen uns in Anspruch, wenn sie es wollen – nicht, wenn wir es wollen. Wir müssen zur Stelle sein, wenn wir gefragt werden, nicht, wenn wir uns das nur einbilden.“ Weltweit gibt es etwa 45 „Sudbury-Schulen“, die nach demselben Konzept arbeiten, darunter in den USA, in Japan, Israel, Dänemark und Deutschland.

„Die Würde der Kinder zu wahren, ist der erste und entscheidende Schritt zu einem globalen kulturellen Klimawandel“, ist Sigrid Haubenberger-Lamprecht überzeugt. „Nur Kinder, denen respektvoll begegnet wird, werden in der Lage sein, zu einem achtsamen Umgang mit der Erde und ihren Ressourcen zurückzufinden.“

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