Hintergründe

Der Letzte von Spandau: Wie starb Rudolf Heß?

Der Letzte von Spandau: Wie starb Rudolf Heß?
Rudolf Heß: Als Parlamentär hätte er nach internationalem Recht 1941 von den Engländern nicht festgenommen werden dürfen.

Er gehörte zum engsten Umfeld Hitlers – und musste dafür mit jahrzehntelanger Haft büßen. Ein Zeuge und ein Autopsiebericht widersprechen der offiziellen Version seines Todes. 

von Daniell Pföhringer

Es ist ein Bild des Grauens, das sich Abdallah Melaouhi am Nachmittag des 17. August 1987 bietet: Auf dem Boden liegt ein lebloser Körper, um ihn herum ein wüstes Durcheinander. Mittendrin stehen drei Männer. Einer davon, der amerikanische Wärter Anthony Jordan, schwitzt stark – er hat offenbar eine große Anstrengung hinter sich. Die beiden anderen stecken in US-Militäruniformen, die ihnen sichtlich nicht passen. Melaouhi ist erschüttert, und sein Entsetzen wird noch größer, als Jordan mit breitem amerikanischen Akzent zu ihm sagt: «Der {sic!} Schwein ist erledigt. Sie brauchen keine Nachtschicht mehr zu arbeiten.» Der Tote ist Rudolf Heß, damals im 93. Lebensjahr – der letzte Gefangene im Kriegsverbrechergefängnis von Berlin-Spandau.

«Der Schwein ist erledigt.» US-Wärter Jordan

Der Tunesier Melaouhi ist der Krankenpfleger des gebrechlichen Greises. Zu ihm hatte Heß in den langen Jahren seiner Gefangenschaft ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Als er seinen Patienten nun in der containerartigen Gartenlaube des Gefängnishofes auf dem Boden liegen sieht, bittet er sofort einen der Männer, ihm bei den Wiederbelebungsmaßnahmen zu helfen. Was dann passiert, schildert Melaouhi in seinem Buch Ich sah seinen Mördern in die Augen wie folgt: «Er ließ sich nicht zweimal bitten, kniete unbewegt nieder und setzte bei seiner ‚Herzmassage‘ so viel Kraft ein», dass «neun Rippen und das Brustbein hörbar brachen», wie es auch die spätere Obduktion der Leiche ergab. Doch warum das alles? Der Schlüssel liegt vermutlich in Ereignissen, die damals schon lange zurücklagen.

Geheimnisvoller England-Flug

Rudolf Heß wurde am 26. April 1894 als Sohn eines meist im Ausland tätigen deutschen Großkaufmannes in Alexandria (Ägypten) geboren. Im Ersten Weltkrieg diente er als Freiwilliger, wurde schwer verwundet und mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. Nach dem Krieg schloss er sich dem Freikorps Epp an und war an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik beteiligt. In der bayerischen Hauptstadt studierte Heß unter anderem bei Professor Karl Haushofer, dem Begründer der Geopolitik, dem er fortan freundschaftlich verbunden war.

Gleich nach der ersten Begegnung mit Hitler trat Heß 1920 der NSDAP bei. Nach dem Marsch auf die Feldherrnhalle am 9. November 1923 wurde er zu 18 Monaten Festungshaft in Landsberg am Lech verurteilt, wo auch der Führer der NS-Bewegung seine Strafe verbüßte. Wieder in Freiheit, wurde er der Privatsekretär Hitlers und 1932 Leiter der Politischen Zentralkommission der NS-Bewegung. Der Titel «Stellvertreter des Führers», den Heß 1933 erhielt, bezog sich nicht auf die Staats-, sondern auf die Parteihierarchie. Tatsächlich war er im NS-Regime zunehmend einflusslos – ab Dezember 1933 war er Reichsminister ohne Geschäftsbereich. In der Bevölkerung erfreute er sich allerdings einer weitaus höheren Beliebtheit als andere Personen aus dem direkten Umfeld Hitlers.

Die bis heute anhaltende Bekanntheit des «Führer»-Stellvertreters hängt mit dem Sachverhalt zusammen, den das Bundesverfassungsgericht 1980 in seiner Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde von Rudolf Heß gegen seine Inhaftierung so beschrieb: «Im Mai 1941 flog er als ”Parlamentär aus eigenem Entschluss” nach Großbritannien, um eine Verständigung zum Frieden zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich herbeizuführen.» Tatsächlich startete Heß am 10. Mai 1941 in Augsburg mit einer Messerschmitt Bf 110, um – offenbar mit Kenntnis und Billigung Hitlers – im schottischen Dungavel House über Lord Hamilton, den er seit Jahren kannte, der Regierung Churchill ein Friedensangebot zu unterbreiten. Nachdem er mit dem Fallschirm über Schottland abgesprungen war, wurde er festgenommen. Als klar war, dass London mit Heß nicht verhandeln wollte, ließ Hitler ihn für geisteskrank erklären, wozu ihm dieser in einem letzten Brief für den Fall des Scheiterns seines Unternehmens selbst geraten hatte.

Vom Vorwurf der Kriegsverbrechen beziehungsweise der Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde Heß im Nürnberger Prozess freigesprochen; schuldig sprach man ihn wegen Verbrechen gegen den Frieden. Die dazu im Urteil vom 30. September und 1. Oktober 1946 enthaltenen Feststellungen sind nicht sonderlich konkret. Sie beginnen damit, Heß habe «den Kriegsvorbereitungen aktive Unterstützung» gewährt, und enden, er habe in Besprechungen nach seiner Ankunft in England versucht, «Deutschlands Vorgehen im Zusammenhang mit Österreich, der Tschechoslowakei, Polen, Norwegen, Dänemark, Belgien und Holland zu rechtfertigen».

Pastor Niemöller setze sich für die Freilassung von Heß ein.

Nachdem 1966 Baldur von Schirach und Albert Speer aus dem Spandauer Gefängnis entlassen worden waren, war Heß bis zu seinem Tod der einzige Gefangene in dem 134 Zellen umfassenden Bau, bewacht von jeweils etwa 40 Soldaten sowie 15 zivilen Mitarbeitern und Wächtern der Siegermächte, die sich abwechselten. Immer wieder setzten sich in den folgenden Jahren bedeutende Persönlichkeiten für die Freilassung des nach heutigen Maßstäben unter Isolationsfolter gehaltenen Rudolf Heß ein: 1967 ehemalige Richter des Nürnberger Militärtribunals, 1968 der britische Kriegspropagandist Sefton Delmer und der von den Nationalsozialisten ins KZ gesteckte Pastor Martin Niemöller. Zu den weiteren Fürsprechern zählten auch verschiedene deutsche Bundeskanzler.

Bevorstehende Entlassung?

Doch alles half nichts. Stets hieß es, die Sowjets würden sich einer Entlassung verweigern, doch am 13. April 1987 berichtete der Spiegel : «Gorbatschow soll nun aber zu der Überzeugung gelangt sein, ein Gnadenakt im Fall Heß werde weltweit als Geste der Menschlichkeit akzeptiert und sei auch der sowjetischen Bevölkerung gegenüber zu erklären.» Gut vier Monate später wurde der offenbar kurz vor seiner Begnadigung stehende Greis in der Gartenlaube im Hof des Spandauer Gefängnisses tot aufgefunden…

Das anfangs beschriebene Verhalten der drei Männer dort ist nicht die einzige Auffälligkeit, die Pfleger Melaouhi an Heß‘ Todestag registriert. Noch am Morgen habe er seinen Patienten wie gewohnt versorgt, schreibt er in seinem Buch. Gegen Mittag habe er sich dann auf den Weg nach Hause gemacht, um sich für den späteren Dienst auszuruhen. Den weiteren Verlauf schildert er so: «Gegen 14:00 Uhr klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und hörte am anderen Ende den französischen Tageschefwächter Jean-Pierre Audoin mit sich vor Aufregung überschlagender Stimme rufen: ”Komm, komm, verdammt nochmal schnell. Heß wurde ermordet, nein, nicht ermordet!” Er hatte sich zwar korrigiert, aber in der ersten Erregung hatte er eindeutig gesagt, dass Heß ermordet worden sei.» Der Tunesier eilte zum Gefängnis, doch als wolle man verhindern, dass rechtzeitig medizinische Hilfe geleistet werden kann, habe man ihn trotz mehrfachen Klingelns etwa 20 Minuten vor dem verschlossenen Tor stehen lassen und es ihm auch danach schwer gemacht, zu Heß vorzudringen. Als man dem Pfleger dann nach Auffinden der Leiche den Notfallkoffer brachte, bemerkte dieser eine weitere Unstimmigkeit: Die Plombe war aufgebrochen, die Sauerstoffflasche leer, der Intubationsausrüstung fehlte die Batterie und das Rohr war perforiert. Wenige Stunden zuvor hatte Melaouhi den Koffer nach eigener Aussage noch kontrolliert und keine Fehler feststellen können. Der herbeigerufene Arzt, ein Engländer, traf dann ungewöhnlich spät ein, und auch im Krankenwagen seien Geräte defekt gewesen, schreibt der Tunesier.

Verräterische Strangulationsmale

Ein Erstgutachten des britischen Gerichtsmediziners James Cameron vom 19. August 1987 kommt zu dem Schluss, dass Heß Suizid begangen habe, indem er sich mit einem am Fenstergriff befestigten Verlängerungskabel erhängte. Die Angehörigen, aber auch der frühere amerikanische Direktor des Kriegsverbrechergefängnisses Spandau, Eugene K. Bird, bezweifelten sofort, dass der frühere Reichsminister, der kaum mehr ohne Hilfe laufen konnte, auf diese Art Selbstmord begangen haben könnte. Eine zweite Obduktion am 21. August 1987, die im Auftrag von Heß‘ Witwe Ilse und seinem einzigen Sohn Wolf Rüdiger von dem renommierten Münchner Gerichtsmediziner Professor Wolfgang Spann durchgeführt wurde, erhärtete den Verdacht eines gewaltsamen Todes.

Heß‘ angeblicher Abschiedsbrief wurde als Fälschung entlarvt.

Als Todesursache wird in beiden Berichten übereinstimmend «Ersticken durch Kompression des Halses» angegeben. Bei der Ursache für das Zusammendrücken kommt Spann aber zu einem anderen Ergebnis als Cameron. Laut dem deutschen Forensiker ist die Ausrichtung der Strangulationsmale am Hals ungewöhnlich gewesen und weist auf einen Tod durch Erwürgen, nicht durch Erhängen, hin. Ein gerader, waagerechter Verlauf der Male, wie ihn Spann am Hals des toten Rudolf Heß feststellen konnte, gilt als charakteristisches Anzeichen des Erdrosselns, während die Male beim Erhängen nach oben in Richtung des Fixpunktes, an dem die Stranguliervorrichtung angebracht wurde, verlaufen. Im Autopsiebericht des damaligen Direktors am Münchner Institut für Rechtsmedizin heißt es dazu: «Der mit Aufnahmen dokumentierte Befund im Bereich des Halses zeigt sowohl im Nacken als auch auf der Halsvorderseite eine in etwa waagerecht verlaufende Spur eines Abdruckes, wie sie in der Regel in Fällen von Gewaltausübung gegen den Hals mittels eines Strangulierwerkzeuges festzustellen ist.» Noch deutlicher wird Spann in Punkt 14 seiner Eidesstattlichen Erklärung vom 25. Januar 1995 zu der von ihm vorgenommenen Obduktion. Demnach sei auf den von ihm aufgenommenen Fotos zu ersehen, «dass es sich eindeutig um keinen Fall von typischem Erhängen handelte». Der Gerichtsmediziner weiter: «Am Nacken verläuft eine horizontale Zeichnung ohne jede Tendenz nach oben. Vor allem aber ist die Linie überhaupt nicht unterbrochen. Dies beweist, dass eine Strangulationsvorrichtung verwendet worden sein muss, und zwar nicht nur flüchtig, sondern lange genug, um diese Zeichnung zu verursachen.» Dann folgt ein entscheidender Punkt: «Es ist die Ausnahme, dass jemand sich selbst stranguliert, denn wenn er bewusstlos wird, lässt seine Kraft nach und er lässt wieder los. Bei einem an der Oberfläche glatten Elektrokabel, welches Rudolf Heß angeblich benutzte, ist zu erwarten, dass dieses beim Nachlassen des Zuges auseinander gleitet.»

In seiner Autobiografie Kalte Chirurgie (1995) schildert Spann, der unter anderem auch an der Ermittlung der Todesursache von Vera Brühne, Franz Josef Strauß und Karl Heinz Beckurts beteiligt war und den Suizid durch Erhängen der RAF-Terroristin Ingrid Schubert 1977 bestätigt hatte, wie ihm die Arbeit im Fall von Heß nicht gerade erleichtert wurde. Man habe sich geweigert, ihm «einen ausführlichen Bericht über die Auffindungssituation zukommen zu lassen». Die Darstellung aus einem weniger detaillierten Erstbericht habe sich «mit unseren Befunden nicht vereinbaren» lassen. Spann schreibt: «Gerade der Fall Heß zeigt, wie sehr der Kriminalist darauf angewiesen ist, einen guten Tatortbefund zu haben. So konnten wir im Falle Heß nach unserem Ergebnis sagen, dass es so, wie es zunächst von der englischen Militärbehörde geschildert wurde, nicht abgelaufen sein konnte.» Es wäre nun, so der Gerichtsmediziner weiter, an den Engländern gewesen, dieser «schwerwiegenden, mit hoher Verantwortung belasteten Aussage» entgegenzutreten. Doch das sei nicht geschehen. Man konnte den Ergebnissen des Münchner Rechtsmediziners also von britischer Seite nicht widersprechen.

Neue Zweifel an der Selbstmord-Version sind aufgekommen, als vor wenigen Jahren der bis dahin der Geheimhaltung unterliegende offizielle Untersuchungsbericht zum Fall Heß öffentlich wurde. Wie die Londoner Tageszeitung Daily Mail am 17. März 2012 meldete, haben insbesondere die in dem seinerzeit von der britischen Militärpolizei verfassten Bericht enthaltenen Fotografien und ein ihm beiliegender angeblicher Abschiedsbrief die Skepsis noch einmal vergrößert. Auf den Fotos ist die geringe Höhe des Fenstergriffes erkennbar, an dem sich der Gefangene erhängt haben soll. Den Brief bezeichnete der renommierte britische Historiker Peter Padfield, ein Spezialist für die Geschichte des Dritten Reiches, rundweg als Fälschung: «It was forged.» Er glaubt, so Daily Mail, «dass das Schreiben an Heß‘ Leiche platziert wurde».

«Das ist mein Todesurteil»

Doch warum sollte man Interesse daran gehabt haben, Heß im Alter von 93 Jahren zu ermorden? Melaouhi berichtet in seinem Buch, dass ihm sein Patient nach der Meldung über die möglicherweise bevorstehende Begnadigung durch Gorbatschow gesagt habe: «Das ist mein Todesurteil.» Während seiner Gefangenschaft durfte Heß noch nicht einmal bei Besuchen seiner Familie über das sprechen, was sich während des Krieges ereignet hatte. Schon gar nicht durfte er öffentliche Stellungnahmen abgeben. Im Falle seiner Entlassung hätte ihn niemand mehr daran hindern können, Auskunft zu geben. Insbesondere zu seinem England-Flug sind noch viele Fragen offen, zu deren Klärung er hätte beitragen können. Das hätte für die Briten allerdings unangenehm werden können, da das von Heß übermittelte Friedensangebot auch zahlreiche Zugeständnisse an England enthielt. Unter diesen Bedingungen, so meinen einige Historiker wie Martin Allen, hätte Großbritannien seine Kriegsführung gegen das Deutsche Reich nicht länger legitimieren können. Churchill jedoch habe keinen Frieden gewollt.

In seinem Buch Rudolf Heß«Ich bereue nichts» schrieb der 2001 verstorbene Sohn Wolf Rüdiger Heß: «Dieselbe britische Regierung, die versuchte, ihn zum Sündenbock für ihre eigenen Verbrechen zu stempeln, und die mehr als ein halbes Jahrhundert lang bemüht war, die Wahrheit über den Fall Heß zu unterdrücken, schreckte schließlich nicht vor einem Mord zurück, um meinen Vater zum Schweigen zu bringen. Seine Ermordung war nicht nur ein Verbrechen an einem gebrechlichen alten Mann, sondern ein Verbrechen gegen die historische Wahrheit.» Ob Hess umgebracht wurde – und wenn ja, warum –, muss endlich in einem ordentlichen Gerichtsverfahren unter Einbeziehung des rechtsmedizinischen Gutachtens von Professor Spann und von Zeugenaussagen wie jenen des Krankenpflegers Abdallah Melaouhi geklärt werden. Dazu ist es auch jetzt noch nicht zu spät, denn: Mord verjährt nicht!

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