Hintergründe

Die toten NSU-Kronzeugen: Erhängt, verbrannt, vergessen

Die toten NSU-Kronzeugen: Erhängt, verbrannt, vergessen
In diesem Auto verbrannte Florian Heilig am 16. September 2013. Die Polizei spricht von Selbstmord, legt aber die kriminaltechnische Untersuchung nicht offen.

Haben Sie gewusst, dass es in der Strafsache Nationalsozialistischer Untergrund mehr tote Kronzeugen gibt als Opfer? Über ein Dutzend Personen, die entscheidend zur Aufklärung hätten beitragen und die Beteiligung des Verfassungsschutzes an den NSU-Morden hätten bezeugen können, sind plötzlich und unerwartet ums Leben gekommen.

von Jürgen Elsässer

Seit 2011 beschäftigt die grausige Mordserie, die mit dem Nationalsozialistischen Untergrund verknüpft ist, die Öffentlichkeit. Im Wesentlichen gibt es dazu zwei Theorien: Die vorherrschende sieht die Schuld bei den drei Mitgliedern des NSU – Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, mit weiteren Unterstützern aus der rechten Szene. Die kritische Lesart weist über das Trio und die rechtsradikale Szene hinaus und nimmt ein Staats- oder Geheimdienstkomplott an. In dieser Perspektive sind die drei eher Werkzeuge, Bauernopfer oder sogar Sündenböcke für andere Kreise.

«Das war alles ganz anders. Die Presse lügt doch nur.» Florian Heilig

Ein genaueres Bild würde man erst bekommen, wenn auch Zeugen zu Wort kämen, die andere Geschichten als die offizielle erzählen könnten. Doch vermutlich werden wir diese andere Version der Ereignisse niemals hören, weil diejenigen, die sie aus eigenem Erfahren berichten könnten, nicht mehr sprechen können.

Zufälle, so weit das Auge reicht

Als Corinna B. am 30. Januar 2017 zum NSU-Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtages vorgeladen wurde, wirbelte das einigen Staub auf, denn die Dame war angeblich eine Schlüsselfigur in der Nazi-Szene am Neckar gewesen. Die offizielle Pressemitteilung des Gremiums fasste zusammen: «Die Zeugin gehörte in den 1990er Jahren mutmaßlich zu einer Gruppierung von Rechtsextremisten im Raum Ludwigsburg, welche im persönlichen Austausch mit der Neonazi-Szene in Jena und Chemnitz standen.

1996 soll sie in diesem Rahmen eine Szenegaststätte in Ludwigsburg mit Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos besucht haben.» Weiter verwies der Ausschuss auf die damalige Beziehung der Zeugin zu einem prominenten Mitveranstalter von Skinhead-Konzerten. Könnte Frau B. das geheimnisvolle schwäbische Netz um das Zwickauer Trio mit seinen Ausläufern zum Ku-Klux-Klan und der internationalen Blood & Honour-Bewegung aufdröseln? Die Erwartungen vor ihrem Auftritt im Stuttgarter Landtag am 8. Februar waren hoch, doch sie wurden nicht befriedigt: Am selben Tag wurde die Frau tot aufgefunden und – trotz Intervention des Ausschuss-Sekretariats – sofort eingeäschert.

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Melisa Marijanovic, bis zu dessen Tod die Freundin von Florian Heilig, mit ihrem neuen Freund Sascha Winter. Alle drei Personen verstarben nach Zeugenaussagen zum Mordfall Heilbronn.

Der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler (SPD) gab zu Protokoll, dass es nicht sicher sei, ob die Zeugin eines natürlichen Todes gestorben war oder ob es Fremdeinwirkung gegeben hatte. Kein Wunder – eine gerichtsmedizinische Untersuchung hatte wegen der schnellen Verbrennung nicht stattfinden können. Es ist noch nicht einmal bekannt, in welcher Stadt Corinna B. gestorben ist.

Die 46-Jährige ist inzwischen eine von vielen Zeugen rund um die Aufarbeitung der sogenannten NSU-Verbrechensserie, die auf mehr oder minder mysteriöse Weise ums Leben gekommen sind. Die meisten hätten über den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter am 25. April 2007 in Heilbronn befragt werden sollen.
Der 18-jährige Arthur Christ wurde am 25. Januar 2009 halb verkohlt auf einem Waldparkplatz in der Nähe des schwäbischen Eberstadt gefunden. Im Innenraum seines PKWs war ein Benzin-Diesel-Gemisch ausgegossen worden. Christ wies eine «verblüffende Ähnlichkeit» mit einem Phantombild auf, das die Zeugin Loretta E. von einem Mann hatte zeichnen lassen, der im April 2007 vom Tatort geflüchtet war.

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Florian Heilig

Am 16. September 2013 war der 21-jährige Florian Heilig in der Nähe des Cannstatter Wasens in Stuttgart in seinem Auto verbrannt – wenige Stunden, bevor er im Landeskriminalamt ein weiteres Mal in der Causa Kiesewetter verhört werden sollte. Er hatte bereits 2011 über eine terroristische Untergrundstruktur in Baden-Württemberg berichtet – nicht über den NSU, sondern die NSS, die Neoschutzstaffel. Als er vom vermeintlichen Selbstmord der NSU-Gründer Mundlos und Böhnhardt am 4. November 2011 erfuhr, sagte er zu seiner Mutter: «Das war alles ganz anders. Die Presse lügt doch nur. Das wurde von höherer Stelle organisiert. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie viele Beamte und hochgestellte Rechtsanwälte, ja sogar Politiker in diese Sache verwickelt sind.» Seine Mutter stellte im Gespräch mit COMPACT klar: «Und er meinte damit nicht Politiker der NPD!»

Am 13. März 2015 sagte Melisa Marijanovic – sie war Florian Heiligs Freundin bis kurz vor seinem Tod – vor dem Stuttgarter Parlamentsgremium aus. Was die junge Frau an sachdienlichen Hinweisen zu geben hatte, drang aus der nichtöffentlichen Sitzung nicht nach außen. Bekannt wurde jedoch, dass auch sie sich bedroht fühlte. Jedenfalls wurde die 20-Jährige am 28. März von ihrem Verlobten Sascha Winter mit Krämpfen in ihrer Wohnung gefunden und starb wenig später an einer Lungenembolie. Die Ärzte erklärten dies als Folge einer Thrombose, die sich nach einem Motorradunfall zwei Wochen zuvor gebildet hatte – obwohl seither zwei Mal eine Thrombosevorsorge bei ihr gemacht worden war.

Der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler (SPD) gab zu Protokoll, dass es nicht sicher sei, ob die Zeugin eines natürlichen Todes gestorben war

Am 8. Februar 2016 fand man auch Sascha Winter tot auf – erhängt. Er hatte Melisa Marijanovic bei deren nichtöffentlicher Aussage vor dem Ausschuss begleitet und dort selbst Hinweise gegeben: Im selben Haus wie er habe ein «Nazi» gewohnt, der mit einem Gesinnungsgenossen in Heilbronn befreundet gewesen sei, einem gewissen Worf K., der wiederum mit Sprengstoff zu tun hatte. Es gebe «keine Anhaltspunkte für Drittverschulden», hieß es nach der Obduktion seitens der Behörden, «alles deutet auf Suizid hin». Eine Bekannte auf gedenkseiten.de zieht die Version in Zweifel und behauptet, der 31-Jährige sei nicht selbstmordgefährdet gewesen – und in der Todesnacht habe er Besuch empfangen.

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Todesanzeige des Sachverständigen Heinz-Dieter Wehner. Er wohnte in Meckenheim bei Bonn, einer Außenstelle des BKA.

Am 11. Juni 2016 starb Lieselotte Walz, angeblich an einer unheilbaren Knochenmarkserkrankung: Sie hatte nach dem Kiesewetter-Mord einen blutverschmierten, Russisch sprechenden Mann in eine Limousine einsteigen sehen. Die Polizei erstellte nach ihren Angaben zwei Phantombilder, die aber damals nicht zur Fahndung herausgegeben, sondern erst 2013 von verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurden. Keine der Zeichnungen hat Ähnlichkeit mit Böhnhardt oder Mundlos. Während die Beamten der Zeugin zunächst absolute Glaubhaftigkeit bescheinigten, änderte sich das nach 2011 mit der behördlichen Festlegung auf die NSU-Täterschaft.

Am 29. Juli 2016 erlag Heinz-Dieter Wehner einem Krebsleiden. Als Gutachter hatte er die Schüsse der Heilbronner Bluttat rekonstruiert und war zu dem Ergebnis gekommen, dass höchstwahrscheinlich zwei Rechtshänder die tödlichen Kugeln auf die Polizisten abgefeuert hatten. Dies stellt die Täterschaft von Böhnhardt in Frage, da dieser bekanntlich Linkshänder war. Zudem monierte der Experte, dass Kiesewetters Polizeiauto nicht mehr für Untersuchungen zur Verfügung stünde, also einmal mehr beweiskräftige Spuren vernichtet wurden.

Thüringen, ab Frühsommer 2000

Während die genannten Todesfälle zumindest der interessierten Öffentlichkeit schon bekannt waren, ist das mysteriöse Ableben einiger wichtiger mit dem NSU befasster Polizeioffiziere bisher nicht öffentlich diskutiert worden. Der Focus schrieb diesbezüglich über eine «erschreckende Häufung von Polizisten-Selbstmorden» in Thüringen – freilich ohne einen politischen Zusammenhang herzustellen. So sollen im August 2001 innerhalb von vier Tagen gleich zwei Spitzenbeamte Suizid begangen haben:

  • Kriminalkommissar Erwin Friese leitete die Abhörtechnik des LKA und war in dieser Funktion mit der Telefonüberwachung auch der rechtsradikalen Szene betraut. Er wurde erschossen in der Toilette seiner Behörde aufgefunden.
  • Achim Koch war Leiter der Einsatzgruppe ZEX gewesen, die gegen Rechts ermittelte. Er hängte sich im Keller seines Hauses auf, an einer Hundeleine. «Für mein Dafürhalten ist das aufgrund der Tatsache, dass er in dieser besonderen Position war, Leiter dieser EG ZEX, (…) irgendwie ein Zeichen, was dieser Mensch setzt», sagte sein LKA-Kollege Mario Melzer vor dem Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss. Kochs Abschiedsbrief wurde unter Verschluss genommen. Auch der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages bekam ihn nicht zu sehen. (Deutschlandfunk, 15.4.2013)
  • Völlig unerwartet verstarb Ende Mai 2002 der erst 58-jährige Polizeiabteilungsleiter Klaus-Jürgen Reimer, angeblich an Herzversagen. Er hatte im Juli 2000 darauf gedrängt, dass neben dem Landesamt für Verfassungsschutz auch die Polizei «selbständige, alleinige Info-Beschaffung» betreiben solle – ein Hinweis auf den Aufbau eigener V-Leute in der Szene. Ex-Innenminister Willibald Böck (CDU) orakelte, Reimer sei «nicht von ungefähr in dieser Nacht gestorben». (Focus, 22/2002) Das Innenministerium versicherte in einer Stellungnahme, für Fremdverschulden liege kein Anhaltspunkt vor – vorauseilendes Dementi einer Behauptung, die niemand aufgestellt hatte.
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Arthur Christ, verbrannt 2009. Er wies eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Phantombild auf, das die Zeugin Loretta E. von einem Mann hatte zeichnen lassen, der am 25. April 2007 vom Tatort Heilbronn/Theresienwiese geflüchtet war

Die große Säuberung

Die mysteriösen Suizidfälle waren nur die Spitze eines Eisberges. Der gesamte Thüringer Polizeiapparat muss ab Frühsommer des Jahres 2000 massiv gesäubert worden sein, also kurz bevor die Serie der sogenannten Döner-Morde begann – und zwar zu Lasten von Aufklärungs- und Ermittlungsarbeit in die rechtsradikale Szene hinein. Mindestens ein Dutzend fähige Kriminalisten wurden strafversetzt, alle Quellen im Neonazi-Milieu abgeschaltet. Das hieß: Freie Bahn für Gewalttäter.

Bei der Säuberung in Thüringen wurden 12 Beamte kaltgestellt.

Der Schnitt fällt zeitlich zusammen mit dem Sturz des damaligen Thüringer Verfassungsschutz-Chefs Helmut Roewer Anfang Juni 2000. Der hatte sich vorhalten lassen müssen, dass die von ihm aufgebaute V-Mann-Arbeit in der rechten Szene aus dem Ruder gelaufen war, insbesondere Tino Brandt als gut vergüteter Anführer des Thüringer Heimatschutzes, dem auch das flüchtige Trio entstammte. Der Clou war aber, dass die Ablösung Roewers nicht zur Verstärkung, sondern zur Einstellung der Fahndung nach den Untergetauchten führte. Anfang November 2000 soll Roewers Nachfolger Stefan Sippel eine Neuausrichtung des Verfassungsschutzes verkündet haben, berichten Insider: Alle Quellen in der rechten Szene wurden abgeschaltet.

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Der Thüringer Verfassungsschutz-Chef Helmut Roewer wurde im Jahr 2000 gefeuert. Er hatte den Einsatz von V-Leuten beim Thüringer Heimatschutz zu verantworten, wo bis zu ihrem Untertauchen 1998 auch Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe aktiv waren.

Unter Kuratel gestellt wurden angeblich die bisher Verantwortlichen des Kampfes gegen Rechts, namentlich der Leiter der Polizeidirektion Jena, Frank Schnaubert, der ehemalige LKA-Chef Egon Luthardt und der erwähnte Abteilungsleiter Reimers, der dann, siehe oben, eines plötzlichen Todes starb. Verfassungsschutz-Chef Sippel erhielt nach Informationen aus Sicherheitskreisen von Innenminister Christian Köckert die Weisung, alle politisch unzuverlässigen Mitarbeiter aus dem Amt zu entfernen. Angeblich wurden etwa ein Dutzend Personen gegen ihren Willen in andere Behörden abgeschoben. Im Amt seien zahlreiche Akten aus den Vorjahren vernichtet worden.

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Akten wurden geschreddert, Zeugen verbrannten.

Statt nach rechts beginnt sich der Verfassungsschutz nun verstärkt auf den Kampf gegen Links auszurichten, PDS inklusive. Und ausgerechnet V-Mann Tino Brandt, über den Helmut Roewer gestolpert war, wird wieder aktiviert: Im Frühsommer 2001 wird er von Journalisten bei einem Treff mit seinem früheren V-Mann-Führer Norbert Wießner beobachtet. Der soll sich bereits zuvor in seiner Dienststelle damit gebrüstet haben, dass er sich «mit höchster Stelle» abgestimmt habe, Brandt wieder anzuschalten. In der anschließenden Aufarbeitung des Falls erklärt Sippel, es habe sich lediglich um Nachsorgetreffs gehandelt.

Weitere tote Zeugen

  • 4.11.2011: Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die angeblichen NSU-Gründer, sterben in ihrem Wohnwagen in Eisenach. Anzeichen auf Fremdeinwirkung.
  • 2013: Manfred K. stirbt an Krebs. Er sah – wie weitere vier Zeugen – am 25. April 2007 einen Streifenwagen zum späteren Tatort Theresienwiese hin einbiegen. Am Steuer saß ein einzelner Beamter in Uniform ohne Beifahrer – also nicht die gleich darauf ermordete Michèle Kiesewetter. Der Uniformierte wurde nie ermittelt.
  • 7.4.2014: Thomas Richter alias Corelli, wichtigster V-Mann beim NSU, stirbt an einer unerkannten Diabetes.
  • April 2015: Muzaffer T., der zum Zeitpunkt des Nagelbombenanschlags von Köln im Juni 2004 zusammen mit seinem Bruder Talat T. am Tatort in der Kölner Keupstraße war, stirbt an Krebs. Pikant: Talat T. war türkischer Offizier im Range eines Oberstleutnant. Sei

Nachsorgetreffs? Auffällig ist, dass Wießner just am Todestag von Böhnhardt und Mundlos wieder von sich reden machte. Der zuständige Ermittlungsleiter, der eingangs erwähnte Michael Menzel, rief ihn erwiesenermaßen kurz nach dem Auffinden der beiden Leichen an und verlangte nach Angaben aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen ultimativ den Namen der dritten Person, die im Todes-Caravan gesehen wurde. Dabei war Wießner an jenem 4. November 2011 schon lange aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. Aber, wie heißt es so schön: Einmal Geheimdienst, immer Geheimdienst.

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