Hintergründe

Weihnachtsfrieden im Ersten Weltkrieg: Der Zauber von Heiligabend

Weihnachtsfrieden im Ersten Weltkrieg: Der Zauber von Heiligabend
Ein Denkmal erinnert an den Weihnachtsfrieden 1914 und ein Fußballspiel, das damals zwischen deutschen und englischen Soldaten ausgetragen wurde.

Mitten in den Grauen der Grabenkämpfe des Ersten Weltkrieges ereignete sich am 24. Dezember 1914 ein in der Geschichte einmaliges Ereignis: Deutsche und britische Soldaten legten ihre Waffen nieder und feierten zusammen Heiligabend.

von Pauline Schwarz

„Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen“ – mit diesen Worten beschreibt ein bayerischer Soldat die Geschehnisse des 24. Dezember 1914 in einem Brief an seine Eltern. Der junge Mann befindet sich mitten in einer der bedeutendsten Schlachten des Ersten Weltkriegs: Im Stellungskrieg in Flandern – umgeben von Stacheldraht, Gewehrfeuer, Blut, Angst und Tod. Etwa eine Dreiviertelmillion Menschen ließen in den zuvor vergangenen fünf Monaten, seit Kriegsbeginn, bereits ihr Leben. Und es wurden immer und immer mehr – doch an diesem Tag, an Heiligabend, nicht.

Tausende britische und deutsche Soldaten legten die Waffen nieder, mit denen sie nur Stunden zuvor den Tod übereinander gebracht hatten – sie sangen Weihnachtslieder und tauschten in einem einmaligen Moment der Menschlichkeit, inmitten eines grausamen Krieges, Geschenke aus.

„Neider überall zwingen uns zur gerechten Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in die Hand“, rief der deutsche Kaiser Wilhelm II. am 31. Juli 1914 in einer Rede dem Volk in Berlin zu – einen Tag vor der Kriegserklärung gegen Russland. Wenige Tage später, als die ersten Soldaten in Richtung des mit Russland alliierten Frankreichs loszogen, versprach der Kaiser ihnen: „Ihr werdet wieder zu Hause sein, ehe noch das Laub von den Bäumen fällt“. Doch es kam anders. Statt eines schnellen Sieges befanden sich die etwa eine Million deutschen Soldaten und ihre Gegner bald mitten in einer nicht enden wollenden Materialschlacht.

Als die deutschen Soldaten auf ihrem Weg nach Frankreich in das neutrale Belgien eindrangen, rechneten sie noch mit einem schnellen Durchmarsch – doch der Bruch des Völkerrechts hatte schwere Folgen: Denn Großbritannien war, genau wie Deutschland, seit dem Jahr 1830 eine Garantie- bzw. Schutzmacht für die belgische Neutralität. Für die Briten war der Überfall und Rechtsbruch der Deutschen der Anlass, in den Krieg einzutreten. Und die kaiserlichen Generäle hatten noch etwas unterschätzt: die erbitterte Gegenwehr der Belgier.

Mit großer Brutalität und hohen Opferzahlen schien der schnelle, kurze Angriff im Rahmen des Schlieffenplans der deutschen Heeresführung zwar noch bis September 1914 aufzugehen, doch kurz vor Paris mussten die deutschen Soldaten in der Schlacht von Marne eine schwere Niederlage einstecken. Sie mussten sich zurückziehen – der Vormarsch kam zum Erliegen. Aus dem Bewegungskrieg wurde bald ein Stellungskrieg, der ganze vier Jahre andauern und Millionen Leben kosten sollte.

Die Front reichte über 700 Kilometer, vom Ärmelkanal bis zur Schweizer Grenze – überall gruben sich die Deutschen auf der einen und die Franzosen und Briten auf der anderen Seite in den Boden. Zwischen ihnen eine durch Explosionen und Artilleriefeuer entstandene graue Schlammwüste, das Niemandsland.

Nässe, Kälte und „Totengräber“

Was die Millionen Soldaten an der Front in den vier Jahren der Grabenkämpfe erlebt und durchlebt haben müssen, ist heute, mehr als hundert Jahre später, nur sehr schwer vorstellbar. Ein Leben inmitten kilometerlanger Schützengraben-Systeme, die von den Männern selbst in Schmutz und Schlamm errichtet wurden – manchmal weniger als hundert Meter von der Feindlinie entfernt. Dort saßen die Soldaten bei Wind und Wetter fest – in sengender Hitze, klirrender Kälte und Flüssen aus Regenwasser und Schlamm – und warteten auf den Angriff des Feindes. 

Verschanzt hinter Stacheldraht waren die Soldaten ständig von einem Höllenlärm aus Infanterie- und Artilleriegeschossen, Gewehrgranaten und schreienden Kameraden umgeben. Den Tod brachten aber nicht nur die damals modernen neuen Waffen, sondern auch die „Totengräber“, wie deutsche Soldaten die zahllosen Ratten nannten, die in den Gängen und Höhlen ihr Unwesen trieben – die an den Toten nagten und Krankheiten auf die Lebenden übertrugen. Doch einer der schlimmsten Feinde der Männer war die Nässe: Irgendwann weichte die Haut an den Füßen der Soldaten auf, sie schwollen an und ohne Behandlung starb das Gewebe immer weiter ab – die Füße wurden schwarz und mussten in vielen Fällen amputiert werden.

Auf die ein oder andere Weise hatte der Krieg so bis Weihnachten 1914 schon 160.000 Engländer, 300.000 Franzosen und 300.000 Deutsche das Leben gekostet. Wahrscheinlich waren die Männer alle müde, stumpf und erschöpft vom Krieg, der Kälte und Nässe – dachten an ihre Frauen und Kinder, die sie in der Heimat zurückgelassen hatten. Denen sie einst versprochen hatten, spätestens an Heiligabend wieder zu Hause zu sein. Und so kam es wohl, dass in Flandern (Belgien) ein deutscher Soldat schwermütig ein Lied anstimmte.

Weihnachts-Gesang aus dem Schützengraben

„Stille Nacht, heilige Nacht“ klang eine leise Stimme über die Stille der Gräben und des Niemandslandes hinweg. Laut dem Journalisten Michael Jürgs, der für sein Buch „Der kleine Frieden im großen Krieg“ akribisch über das Weihnachtswunder 1914 recherchiert hatte, war es zunächst nur ein einzelner deutscher Soldat, der das traditionelle Weihnachtslied anstimmte. Doch in Sekunden hatte er seine Kameraden auf der ganzen Grabenlinie ergriffen – „Schulterwehr an Schulterwehr“ sangen sie gemeinsam weiter: „Schlaf in himmlischer Ruh“.

Als das Konzert aus tausenden Männerkehlen verklungen war, herrschte laut Jürgs eine Minute Stille. Doch dann begannen die „Tommys“, wie man die Engländer nannte, zu klatschen. Sie riefen „Good, old Fritz“ und „More, more“. Die „Fritzens“, also die Deutschen, antworteten mit einem „Merry Christmas, Englishmen“, sie riefen „We not shoot, you not shoot“ und stellten Kerzen auf den Wällen ihrer Gräben auf. 

Aus verschiedenen Berichten und Überlieferungen aus dieser Zeit lässt sich entnehmen, dass beide Kriegsparteien vorsichtig aus ihren Gräben lugten – wohl in der Angst, das Ganze könnte ein listiger Trick des Gegners sein. Langsam wagten sich einzelne Soldaten heraus aufs Niemandsland zwischen den Schützengräben – zunächst um die Gefallenen zu bergen, an die man während des Dauerfeuers nicht herangekommen war. Doch dann gab es erste Kontakte, Gespräche, man tauschte Zigaretten, Zigarren und Schokolade. Mit der Zeit trauen sich immer mehr Männer hinaus. 

Bier gegen „Plum Pudding“

„Es klingt kaum glaubhaft, was ich euch jetzt berichte, ist aber pure Wahrheit“, schrieb Josef Wenzl, der zu Beginn bereits erwähnte bayerische Infanterie-Soldat, seinen Eltern am 28. Dezember. „Kaum fing es an Tag zu werden, erschienen schon die Engländer und winkten uns zu, was unsere Leute erwiderten. Allmählich gingen sie ganz heraus aus den Gräben, unsere Leute zündeten einen mitgebrachten Christbaum an, stellten ihn auf den Wall und läuteten mit Glocken… Zwischen den Schützengräben stehen die verhassten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder.“

Die Männer, die sich tags zuvor noch erbitterte Gefechte mit hohen Verlusten auf beiden Seiten geliefert hatten, tranken und aßen zusammen, sie beteten sogar zusammen und spielten Fußball gegeneinander. Mehr noch: Es gibt Berichte darüber, dass sich Deutsche und Engländer gegenseitig die Haare schnitten. Schätzungsweise 100.000 Soldaten an der Westfront sollen sich an den Weihnachtsfrieden gehalten haben. 

Laut MDR waren es auf deutscher Seite vor allem die Sachsen, die sich in den Stunden um Heiligabend mit ihren Gegnern verbündeten und Bier gegen „Plum Pudding“ tauschten. Ein sächsischer Oberleutnant soll in Frelinghien, im Norden Frankreichs, zu den Briten gesagt haben: „Wir sind Sachsen, ihr seid Angelsachsen, wieso sollten wir uns gegenseitig erschießen?“

Dass die Soldaten und Offiziere zwischen all dem Morden und den Qualen des Krieges einen Moment zu ihrer Menschlichkeit – zu ihren Gefühlen, zu Güte, Humor und Freude – zurückfanden, gefiel ihren Vorgesetzten jedoch überhaupt nicht. Sie fürchteten, vielleicht zurecht, dass die Soldaten „Gefallen am Frieden“ finden könnten. Deshalb drohten Sie ihren Männern hohe Strafen an und heizten ihnen bei Kontrollbesuchen ein. Doch, so berichtet der MDR, den Frontsoldaten waren ihre Gegner auf der anderen Seite des Niemandslandes inzwischen näher, als die eigenen Vorgesetzten.

So hielt der Weihnachtsfrieden trotz Drohungen der Heeresleitungen an manchen Stellungen noch über die Weihnachtsfeiertage hinaus an. Doch der „Frieden von unten“ war bald überall zu Ende – man schoss nicht länger über die Köpfe des Gegners hinweg. Das Töten und Kämpfen ging nach diesem, so kurzen wie berührenden, Hoffnungsschimmer noch vier Jahre weiter. Der Erste Weltkrieg, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, endete mit der deutschen Kapitulation und insgesamt 17 Millionen Toten. Weder im Verlauf des gesamten Krieges, noch im folgenden Weltkrieg wiederholte sich Derartiges. Der Weihnachtsfrieden 1914 bleibt bis heute ein einmaliges Ereignis in der Kriegsgeschichte. 

Retten Sie das Meinungsklima!

Ihnen gefallen unsere Inhalte? Zeigen Sie Ihre Wertschätzung. Mit Ihrer Spende von heute, ermöglichen Sie unsere investigative Arbeit von morgen: Unabhängig, kritisch und ausschließlich dem Leser verpflichtet. Unterstützen Sie jetzt ehrlichen Journalismus mit einem Betrag Ihrer Wahl!

🤝 Jetzt Spenden

Neu: Folge uns auf GETTR!

GETTR – 100% Meinungsfreiheit! zensurfrei · unabhängig · zuverlässig
Teilen via