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Eigentlich wollte Putin nur die Kiewer Regierung „austauschen“…

Eigentlich wollte Putin nur die Kiewer Regierung „austauschen“…
Zukünftige Kriegsgegner? Wladimir Putin, Kanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden

Die Medien zelebrieren den ersten Jahrestag der russischen Ukraine-Invasion als Fanal – obwohl der Konflikt viel älter ist. Grund genug, nochmals an die Vorgeschichte dieses Kriegs zu erinnern – und daran, dass auch die letzten beiden Weltkriege nicht wie ein Vulkan aus heiterem Himmel ausbrachen.

von Albrecht Künstle

Der 24. Februar 2022 wird wohl jedem Europäer in Erinnerung bleiben: Es war ein Donnerstag, und das im wahrsten Sinne des Wortes: Russische Truppen griffen die Ukraine an, nachdem sie tagelang Manöver innerhalb der eigenen Grenze abgehalten hatten. Viele – auch der Autor – wunderten sich, dass Putin nun doch einen regulären Krieg begann, obwohl er sich seit 1999 fünf NATO-Osterweiterungsrunden von 16 Ländern „gefallen” lassen und stets nur mit Murren, manchmal auch Knurren quittiert hatte. Das war‘s dann aber auch gewesen – mehr als Unmutsbekundungen war nie passiert. Dann kam es plötzlich zur extremen „Überreaktion” des Überfalls auf das Nachbarland. Allerdings gehört zur vollständigen Wahrheit, dass sowohl in Kiew als auch im Westen sowohl die Vorschläge wie auch die Warnungen des Kreml viele Jahre lang ignoriert und missachtet wurden.

Offensichtlich glaubte Putin vor einem Jahr, einen Krieg, der diesen Namen auch in der internationalen Wahrnehmung verdient, vermeiden zu können, indem er eine kurze „Spezialoperation“ anordnete mit dem Ziel, die Selenskyj-Herrschaftsclique zu entmachten, die auf Biegen und Brechen in die NATO und die EU strebte. Deshalb überquerten die „Z-Einheiten schließlich die Grenze und rollten Kolonnen von Militärfahrzeugen auf den Autobahnen gen Kiew – wo sich Putins Soldaten allerdings eine sehr blutige Nase holen sollten. Und das war gut so. Zwar ist auch die Ukraine kein demokratischer Staat, sondern hat eine überaus korrupte Regierung. Aber: Es ist kann und darf nur Sache der eigenen Bevölkerung, ihre Machthaber in die Wüste zu schicken – nicht die von „Regime-Changern” aus dem Ausland und schon gar nicht eines Autokraten aus dem riesigen Nachbarland; ganz so, wie es auch das Recht eines jeden Volkes sein muss, sich selbstbestimmt aus dem Würgegriff anderer Staaten zu lösen.

Komplexe Vorgeschichte: Ein erhellender Blick auf die Zeitachse

Und dennoch hatte der Ukrainekrieg eine sehr lange und komplexe Vorgeschichte, die vor allem im Westen gezielt ausgeblendet werden soll, weil ihre Vergegenwärtigung die ukrainische Opferrolle stark in Zweifel ziehen könnte. Was sich alles in den acht Jahren vor der Invasion abzeichnete, soll nachfolgend nochmals stichwortartig in Erinnerung gerufen werden. Auch diese Daten sollte man sich merken – und nicht nur den Tag des Kriegsbeginns. Die Zeitachse liest sich in der Tat wie das Drehbuch zu einem Kriegsfilm:

  • Bis 2014 ff.: Zunehmende russische Orientierung und russische Prägung der östlichen Regionen der Ukraine – nicht nur ethnisch und sprachlich, sondern auch politisch und kulturell
  • November 2013 bis Februar 2014: Beim „Euromaidan” führen maßgeblich vom Westen orchestrierte Proteste zum Sturz des legitim gewählten prorussischen Präsidenten Janukowytsch, nachdem sein Premierminister Asarow die Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens verweigert hatte
  • 18. März 2014: Russland annektiert in Reaktion auf den „Putsch“ von Kiew die Krim
  • 7. Mai 2014: Putin rät den Akteuren im Donbass und in Luhansk von einer Volksbefragung ab
  • 11. Mai 2014: Die Volksbefragung findet dennoch statt, die Mehrheit votiert für zwei autonome Volksrepubliken
  • Seit Mai 2014: Zunehmende bewaffnete Konflikte zwischen der Ukraine und prorussischen Einheiten
  • 17. Juli 2014: Abschuss der malayischen Passagiermaschine MH-17

Stetige Eskalation und Versagen der westlichen Diplomatie

  • Seit Ende 2014: Zunehmende Diskriminierung der Bevölkerung im Donbass: verweigerte Rentenzahlungen für russischstämmige, Sprachverbote, bürgerkriegsähnliche Zustände, Morde an der Zivilbevölkerung durch irreguläre ukrainische Einheiten
  • 5. November 2014: Die Ukraine unter dem neuen Präsidenten Poroschenko, die OSZE und Russland verabschieden das erste Protokoll einer Friedenslösung („Minsk I”)
  • 12. Februar 2015: Merkel, Hollande, Putin, Poroschenko handeln einen Waffenstillstand aus („Minsk II”)
  • seit 2015: Gemäß geänderter ukrainischer Staatsdoktrin gilt der östliche Nachbar Russland fortan als „Feindstaat”
  • November 2015: Dem Donbass wird durch Kiew eine echte politische Selbstbestimmungsperspektive „in Aussicht gestellt”, was jedoch nie umgesetzt wird
  • 18. Februar 2017: „Normandie“-Treffen am Rand der Sicherheitskonferenz in München
  • 2017 bis 2019: Eskalation des „Kleinkriegs“ der Ukraine gegen die Autonomen Volksrepubliken, Verschärfung von Übergriffen ukrainischer Milizen auf die russische Bevölkerung
  • 20. Mai 2019: Der frühere Komiker Selenskyj kommt mit Hilfe dubioser Oligarchen an die Macht und löst Poroschenko ab. Es entsteht eines der korruptesten Regimes Eurasiens Anfang Dezember 2019: Erneutes „Normandie“-Treffen in Paris mit Selenskyj; Konsens: Minsk II soll nicht erfüllt werden
  • 9. Dezember 2019: Außenminister Steinmeier diskutiert in Paris einen Sonderstatus von Donezk und Luhansk. Als Reaktion erklärt Selenskyj, Minsk II endgültig aufzugeben, lehnt ein „Minsk III” kategorisch ab und kündigt stattdessen den „Kampf“ um den Donbas an. In der Folge kommt es zu weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Region

Unrühmliches Treiben Selenskyjs

  • 27. Juli 2020: Ein Waffenstillstand in der Ostukraine tritt in Kraft, wird jedoch nicht konsequent eingehalten – auch, weil Selenskyj weiter eine harte Linie gegen die russischstämmige Bevölkerung verfolgt
  • Januar 2021: Der neue US-Präsident Biden signalisiert Selenskyj Unterstützung und gibt grünes Licht für seine harte Linie in den russischstämmig dominierten Oblasten
  • 24. März 2021: Selenskyj setzt seine (?) Strategie zur „Rückeroberung der Krim” in Kraft
  • 25. März 2021: Selenskyjs neue Militärdoktrin zielt auf die Integration der Ukraine in die NATO ab
  • April 2021: Die Ukraine eskaliert den verdeckten Krieg gegen die Volksrepublik Donbass, der bislang je nach Schätzungen 8.000 – 14.000 getötete Zivilisten gefordert hat
  • Mai 2021: Die Kiewer Führung ist entschlossen zu einem Krieg gegen Russland, wird aber von Biden zurückgehalten
  • 16. Juni 2021: Biden und Putin treffen sich in Genf und debattieren über den Ukraine-Konflikt, aber der Gipfel bringt keinen Erfolg
  • 29. Oktober 2021: Russlands Außenminister Lawrow schlägt in einem 28-seitigen Brief ein multilaterales Treffen zur Konfliktlösung vor
  • 4. November 2021: EU und NATO in Person der „Normandie“-Außenminister erklären – ganz im Sinne der Kiewer Regierung -, den russischen Vorschlag zu einem Treffen nicht anzunehmen. Stattdessen laden sie Lawrow zu einem Treffen im kleinen Kreis für eine Woche später ein
  • 6. November 2021: Lawrow, sichtlich enttäuscht über die Reaktion und verärgert über die viel zu kurzfristige Terminierung, schlägt die Einladung zum 11. November aus, hält aber an seinem brieflichen Vorschlag fest
  • 15. November 2021: Die „Normandie“-Außenminister bezichtigen daraufhin Putin, er wolle „nicht verhandeln”; Lawrow legt daraufhin in einem Offenen Brief an Berlin und Paris nochmals nach und bekräftigt seine Bereitschaft zu einem multilateralen Treffen
  • Dezember 2021: Die NATO erhöht stetig ihre Präsenz in der Ukraine, vorgeblich nur zur „Ausbildung“, wie es heißt

Roadmap zum Krieg

  • Dezember 2021: Putin bittet nicht mehr um Sicherheitsgarantien seitens der NATO für sein Land, sondern fordert diese erstmals. Gleichzeitig beginnen russische Truppenkonzentrationen entlang der Grenze zur Ukraine
  • 27. Januar 2022: Abgesandte der Vierermächte bekräftigen nochmals den „Waffenstillstand” von Juli 2020 im Osten der Ukraine
  • 10. Februar 2022: In Berlin treffen sich die vier Unterhändler und beschließen, Minsk II solle Gesetzeskraft erlangen
  • 19. Februar 2022: Selenskyj spricht auf der Münchner Sicherheitskonferenz über das Ziel einer atomaren Bewaffnung seines Landes
  • 21. Februar 2022: Putin erkennt erstmals den Donbass als Autonome Republiken an
  • 24. Februar 2022: Putin kündigt eine „Militäroperation“ gegen die Ukraine an. Der Einmarsch beginnt
  • 5. März 2022: Israels Außenminister sucht eine Beendigung des Kriegs, was vor allem am Westen scheitert, so wie auch die folgenden Kontaktgespräche in Weißrussland

Hier findet sich übrigens eine recht ausführliche Beschreibung des sogenannten „Normandie-Formats”. Die fachfremde Quereinsteigerin Annalena Baerbock hatte dieses in ihrer Funktion als Bundesaußenministerin anfangs noch klangvoll im Munde geführt – bis sie in die Ukraine reiste und sich plötzlich zur verkappten Kriegsministerin entwickelte – und mittlerweile sogar zur Kriegserklärungs-Ministerin (ein Glück, dass diese peinliche Witzfigur von einer Außenministerin auf dem internationalen Parkett längst als eine Art politischer Betriebsunfall gilt und nicht ernstgenommen wird – sonst hätte der Ukrainekrieg Deutschland wohl längst erreicht).

Bittere Tatsache ist, dass dieser so absehbare wie vermeidbare Krieg innerhalb eines Jahr nun schon halb so viele zivile Todesopfer (nämlich offiziell bis vorgestern 7.155) gefordert hat wie der achtjährige Krieg im Donbass – und mutmaßlich über 200.000 tote Soldaten auf beiden Seiten. Gibt es Perspektiven? Ich bleibe dabei: Am Ende dieses Krieges werden sich Historiker – mehr noch als bei allen anderen Kriegen der Geschichte – die Frage stellen, wozu dieser überhaupt nötig war. Die Krim wird nämlich definitiv russisch bleiben, weil die dortige Bevölkerung das so will; Donezk und Luhansk könnten autonome Volksrepubliken bleiben, sofern Putin die Annexion während des Kriegs widerruft und die Ukraine eine erneute Volksabstimmung unter Kontrolle der OSZE stattfinden lässt.

Friedensverhandlungen als einziger Ausweg

Es sollten im Zuge einer Friedenslösung auch Volksabstimmungen unter Kontrolle der OSZE in den noch russisch besetzten und annektierten Oblasten Saporischschja und Cherson stattfinden – die allerdings eher zugunsten der Ukraine ausgehen dürften. Die erfolgten Abstimmungen während des Krieges zugunsten Russlands waren schon deshalb nicht aussagekräftig, weil sich viele stimmberechtigte Ukrainerinnen und Ukrainer ins Ausland begeben hatten. Die Annexion dieser Oblasten wäre daher zu widerrufen; im Gegenzug erhält Russlands beispielsweise eine Transiterlaubnis auf ukrainischen Autobahnen zur nördlichen Krim, ähnlich, wie dies zu Zeiten der DDR zwischen Westdeutschland und Berlin der Fall war. Wo ein Wille ist, gibt es auch einen (Verkehrs)-Weg.

All das jedoch setzt Friedensverhandlungen voraus – zu deren Anbahnung und erfolgreicher Durchführung der Westen eigentlich seine ganze Kraft in die Waagschale werfen müsste. Doch er praktiziert das genaue Gegenteil: Ständig weitere Waffenlieferungen und eine stetige Eskalationsrhetorik stehen Verhandlungsbemühungen zur Beendigung des Krieges mit dem Ziel einer Friedenslösung diametral entgegen. Zwangsläufig wird dies die Aufrüstung Russlands durch seinen östlichen Nachbarn China zur Folge haben – da Russland allein gegen die NATO konventionell unterlegen ist und die geostrategischen Interessen Pekings diesbezüglich zugunsten Russlands überwiegen. Der Blutzoll wird daher weiter steigen, und am Ende droht ein Dritter Weltkrieg – weil eine militärische „Niederlage“ Russlands durch Kapitulation oder gar das Hineintragen des Krieges auf russisches Territorium, wie es die Ukraine sich wünscht, zwangsläufig zum Einsatz von Nuklearwaffen führen wird.

Das Ende der menschlichen Zivilisation

Man sollte eines nicht vergessen: Auch der Zweite Weltkrieg weitete sich von Europa ausgehend erst nach zwei Jahren zu einem Weltkrieg aus. Mit einem Dritten Weltkrieg könnte sich dann allerdings jede Aufarbeitung und Geschichtsschreibung über die Ursachen erübrigen – denn sollten wieder Atomwaffen zum Einsatz kommen, wie diese nur einmal durch die USA 1945 geschah, wäre es wohl das Ende der menschlichen Zivilisation.

Ob es dem Westen gefällt oder nicht: Eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO wird sich Russland weder unter Putin noch unter einem anderen Machthaber gefallen lassen. Wer das anders sieht, verkennt die Realitäten – und ist sich anscheinend nicht ansatzweise im Klaren darüber, was eine Atommacht tun wird, wenn sie sich mit dem Rücken an der Wand sieht. Hingegen wäre Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union durchaus denkbar und könnte Teil einer Verhandlungslösung mit Russland sein, so eine solche endlich angebahnt wird. Für die EU wäre dies freilich eine Katastrophe, da die Ukraine jegliche noch so abgesenkten Beitrittskriterien noch weniger erfüllt als es etwa die Türkei täte. Die Gemeinschaft würde dadurch vollends zum Krisengebilde. Allerdings spielt es am Ende auch keine Rolle mehr, welches neu aufzunehmende Land diesem aufgeblähten EU-Gebilde schlussendlich den Todesstoß versetzt: Das Europa Brüssels ist schon jetzt am Ende.

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