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Menschenfresser – wie Fentanyl US-Großstädte zerstört

Menschenfresser - wie Fentanyl US-Großstädte zerstört
In den USA greifen Drogenabhängige neuerdings auch zu einem Beruhigungsmittel, das eigentlich für die Veterinärmedizin entwickelt wurde.

Zwei Milligramm Carfentanyl sind tödlich – die Droge wirkt tausendmal so stark wie Heroin. US-Großstädte werden vom lebenden Tod gezeichnet. Eine Tragödie – auch Deutschland wird sie wohl erleben.

von Pauline Schwarz

Es liegt ein süßlich, fauliger Geruch in der Luft, der einem fast den Atem nimmt. Wo man hinsieht, liegen Menschen zwischen Bergen aus Müll, Exkrementen und blutigen Mullbinden auf dem Boden – ihre Körper sind völlig starr, die Gliedmaßen auf abscheuliche Art und Weise verkrümmt. Junge, Alte, Frauen und Männer mit offenen, feuchten und stinkenden Wunden an Armen, Beinen und im Gesicht prägen das Stadtbild – bei manchen weiß man aus der Ferne nicht einmal, ob sie überhaupt noch am Leben sind. Andere stöhnen vor sich hin, zucken unkontrolliert oder versuchen, sich mit ihren erschlafften Armen eine dreckige Spritze in ihre von Narben überzogene Ellenbeuge oder zwischen ihre schwarz angelaufenen Zehen zu stecken. 

Was sich aktuell auf den Straßen Amerikas abspielt, sind Szenen wie aus einem Horrorfilm. Doch die Menschen in Städten wie Philadelphia, Ohio und San Francisco sind keine Schauspieler, die gekonnt einen besonders gruseligen Zombie darstellen. Sie sind süchtig, krank und sie sterben auf offener Straße – weit über Hunderttausend jährlich. Als Opfer einer von Fentanyl dominierten Opioid-Krise, die dank der Corona-Maßnahmen kürzlich ihren traurigen Höhepunkt erreichte.

Oxycontin: Der Anfang vom Ende

Seinen Anfang nahm das alles in den 80er Jahren, als mehrere Studien veröffentlicht wurden, die eine vermeintliche sichere Langzeitanwendung, also kein hohes Suchtrisiko, von Opioiden suggerierten – trotz qualitativer Mängel wurden die Arbeiten vielfach zitiert, auch von der American Pain Society (APS). Sie war es auch, die wenige Jahre später Schmerz zum fünften Vitalparameter erklärte – neben Blutdruck, Puls, Körpertemperatur und Atmung. Schmerz galt damit als etwas, das man nicht länger ertragen müssen sollte – eigentlich ein gutes Anliegen. Warum sollte man mit quälenden Schmerzen leben müssen, wenn es eine einfache, harmlose Lösung gibt, die einem das Leben wieder erträglicher macht. 

So sahen es wohl auch die staatlichen Behörden Federation of State Medical Boards (FSMB) und die Drug Enforcement Administration (DEA), die wenig später verfügten, Kontrollen bei Ärzten, die Opioide verschreiben, zu verringern. Die Folge war desaströs. Ärzte verschrieben die Medikamente nun nicht mehr nur an Krebs- oder Palliativpatienten, sondern auch an alle anderen Schmerzpatienten – also auch an Menschen, die beispielsweise unter Rücken- oder Zahnschmerzen litten. Das damals dominierende Opioid war das aus Deutschland stammende Oxycodon, welches unter dem Markennamen Oxycontin von der Firma Purdue Pharma in den USA verkauft wurde. Der Konzern bewarb das Medikament damit, dass es durch eine neuartige Ummantelung nur eine geringe Suchtgefahr hätte. 

Das war falsch – das gestand die Firma, die später von tausenden Amerikanern verklagt wurde, 2020 vor einem Bundesgericht in Newark ein. Doch da war es schon längst zu spät: Laut verschiedenen Medienberichten und Büchern wie „Dopesick“ stellte Purdue Pharma in den 90ern Millionen bereit, um mit ihren Vertretern Werbung bei Ärzten zu machen – und das wohl vor allem bei mit Opioiden unerfahrenen Medizinern. Sie sollen gedrängt worden sein, die Substanz auch bei moderaten Schmerzen in hoher Dosis über lange Zeiträume zu verschreiben – wodurch das Suchtrisiko von Oxycontin, das eine etwa doppelt so starke Wirkung hat wie Morphium, nochmal erheblich anstieg. 

Von Oxycontin über Heroin zu Fentanyl

Mit dem Medikament ließ sich damals in sehr kurzer Zeit sehr viel Geld verdienen – weshalb es laut verschiedener Studien auch in Apotheken und anderen Gesundheitseinrichtungen zu missbräuchlichem Verkauf kam. Zumal der Pharmakonzern Purdue gute Beziehungen zu der Strafvollzugsbehörde für den Bereich Suchtmittel, der DEA, gehabt zu haben scheint – es gab ranghohe Mitglieder der Behörde, die später in Führungspositionen des Unternehmens wechselten.

So konnte Oxycontin relativ ungebremst die Staaten überschwemmen, es wurde in wenigen Jahren eines der meistverkauften Schmerzmittel in den USA. Doch mit den Verkaufszahlen schnellte nicht nur die Zahl der Süchtigen nach oben, sondern auch die der Drogentoten. Laut Zeit vervierfachte sich die Zahl der Todesfälle durch verschreibungspflichtige Opioide zwischen 1996 und 2010. Und das führte schließlich doch zu politischen Maßnahmen in vielen Bundesstaaten.

Es wurden Gesetze erlassen, um die Voraussetzungen für die Herausgabe des Medikaments zu erschweren. Über den Abgleich in einem elektronischen Register sollte auffälliges Konsumverhalten zudem schneller erkannt werden. Und dann veränderte Purdue im Jahr 2010 wegen eines ablaufenden Patents auch noch sein Medikament, sodass sich der reine Wirkstoff nicht mehr so leicht extrahieren ließ – zuvor hatten Süchtige den Stoff für den schnelleren und härteren Kick häufig herausgelöst und sich gespritzt oder geraucht.

Die Zahl der Drogentoten ging daraufhin tatsächlich etwas zurück – doch nur um kurze Zeit später zu explodieren. Denn es geschah genau das, was passieren musste, wenn man einem Süchtigen ohne Entwöhnung seine Drogen wegnimmt: Sie stiegen um. Von Oxycontin auf das über den Schwarzmarkt leicht erhältliche Heroin – dessen desaströse psychische und körperliche Folgen den meisten wohl bekannt sind.

Was viele nicht wissen, ist jedoch, dass Heroin häufig mit Fentanyl gestreckt wird – „Heroins tödlicherer Cousin“, wie die New York Times 2016 titelte. Heute dominiert das synthetische Opioid die Drogen-Krise in den Vereinigten Staaten. Denn die Substanz, die in der Medizin ebenfalls als Schmerzmittel eingesetzt wird, ist bis zu 50-mal so stark wie Heroin. Außerdem ist sie wesentlich günstiger und leichter zu beschaffen. 

„Das Zeug frisst die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes auf”

Fentanyl hat ein extremes Suchtpotential und einen starken Gewöhnungseffekt bei Konsumenten, was bedeutet, dass man nach kurzer Zeit immer höhere Dosen einnehmen muss, um noch den gewünschten – euphorisierenden und das Bewusstsein trübenden – Effekt zu erhalten. Und genau das ist gefährlich, denn schon geringe Mengen können zu einem Atemstillstand und damit zum Tod führen. Unter anderem um das zu umgehen und gleichzeitig den bewusstseinsverändernden Effekt von Fentanyl zu verlängern, wird der Droge seit einigen Jahren zunehmend die billige Substanz „Xylazin“ hinzugemischt. Und eben dieses „Tranq“, wie es auf der Straße genannt wird, ist es, das die Menschen in regelrechte Zombies verwandelt.

Xylazin ist eigentlich ein Arzneistoff aus der Tiermedizin, den Ärzte verwenden, um große Wildtiere wie Giraffen oder Elefanten zu betäuben. Er führt laut Wissenschaftlern – darunter auch der amtierende Direktor des Office of National Drug Control Policy, Rahul Gupta – dazu, dass Atmung, Blutdruck, Körpertemperatur und die Herzfrequenz auf ein kritisches Niveau gesenkt werden. Das geht so weit, dass es Konsumenten bei hoher Dosierung in eben die Koma-ähnlichen Zustände versetzen kann, die man auf den Straßen von Philadelphia, Chicago oder anderen Städten in den ganzen USA sehen kann. Xylazin ist auch dafür verantwortlich, dass so viele dieser Menschen in Rollstühlen sitzen und große, tiefe, offene Wunden – die teilweise bis auf den Knochen gehen – an ihrem Körper haben. 

In dem wissenschaftlichen Bericht „Xylazine — Medical and Public Health Imperatives“ gehen Gupta und seine Kollegen davon aus, dass die gestörte Blutzirkulation dazu führt, dass die natürlichen Mechanismen zur Regeneration der Haut aussetzen. So verwandeln sich schon kleinste Hautverletzungen in Wunden, die nicht mehr heilen und immer größer werden. Denn das Gewebe stirbt ab – und das nicht nur an verletzten Hautstellen. Xylazin führt auch zu einer derartigen Verengung von Blutgefäßen, dass nach kurzer Zeit an unverletzten Stellen Gewebe abstirbt. Die Morgenpost zitiert dazu Ärzte aus Philadelphia: „Das Zeug frisst die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes auf.” Und tötet sie: Während 2018 noch 260 Menschen durch „Tranq“ starben, waren es 2021 schon rund 3.500 im Jahr.

Erst durch Xylazin wird Fentanyl zu der „tödlichsten Drogengefahr“, die Amerika je erlebt hat – so drückte es Rahul Gupta aus. Und auch wenn man es anhand der verstörenden Zahlen und Bilder kaum glaubt, es geht noch schlimmer. Neben Xylazin ist auf dem amerikanischen Drogenmarkt nämlich auch „Carfentayl“ auf dem Vormarsch. Ein Arzneistoff, der wie „Tranq“ zur Betäubung von großen Säugetieren, wie Elefanten, eingesetzt wird, aber wesentlich tödlicher ist – selbst für „geübte“ Konsumenten. Laut DEA können schon zwei Milligramm der Droge tödlich sein, also eine Menge, die man neben einem Penny kaum sehen kann. Schon der Hautkontakt mit „Carfentanyl“ kann tödlich enden – davor warnte die bayrische Polizei laut Hamburger Abendblatt schon 2018 Wachen in ganz Deutschland. Und auch BKA und Interpol warnten schon vor dem Stoff, der bis zu 10.000-mal stärker wirkt als Morphium und bis zu 5.000-mal mehr als Heroin.

Fentanyl ist auch in Deutschland auf dem Vormarsch – das bewies eine im Februar veröffentlichte Untersuchung aus Hamburg. Von den Heroin-Proben, die rund um den Hauptbahnhof getestet wurden, waren etwa elf Prozent mit Fentanyl versetzt. Die Gefahr, dass Fentanyl, sein noch tödlicherer Verwandter Carfentanyl und die Zombie-Droge Xylazin bald auch auf deutschen Straßen zu apokalyptischen Szenen führen könnten, ist also durchaus real – auch wenn Opioide hierzulande viel stärker reguliert werden. Die Zahl der Drogentoten steigt auch in Deutschland seit Jahren an – es gibt immer mehr Süchtige und immer mehr Obdachlose. Wenn Berlin und Hamburg nicht bald aussehen sollen wie Philadelphia, sollte man in Deutschland verdammt vorsichtig sein – auch mit der Legalisierung von Einstiegsdrogen wie Cannabis.

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