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Präventivschlag gegen Russland? Die NATO spricht das Undenkbare aus

Präventivschlag gegen Russland? Die NATO spricht das Undenkbare aus
Ein Awacs-Flugzeug startet in Geilenkirchen mit dem Ziel Polen.

Der Westen will sich mit dem verlorenen Krieg in der Ukraine nicht abfinden und dreht weiter an der Eskalationsschraube. Russland soll mit allen Mitteln unterjocht werden – zur Not auch mit Präventivschlägen der NATO.

von Thomas Hartung

Die Szene: Ein Militär, ein Interview, und ein Wort, das bislang eher im Schatten der Planspiele geistert als im offiziellen Vokabular: „Präventivschlag“. Der italienische Admiral Giuseppe Cavo Dragone, Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, lässt gegenüber der “Financial Times” am 2. Dezember durchblicken, das Bündnis müsse erwägen, gegenüber Russland „aggressiver“ und „proaktiver“ vorzugehen – bis hin zu präventiven Attacken als angeblich defensive Option. Es entsteht das Bild eines Militärbündnisses, das sich in der Logik eines vermeintlich allgegenwärtigen „hybriden Krieges“ Russlands auf einen mentalen Ausnahmezustand zubewegt. Plötzlich ist nicht mehr die Abwehr eines Angriffs der Maßstab, sondern die gefühlte Gesamtlage: russische Drohnen, Sabotagevorwürfe, Cyberangriffe – vieles davon unbewiesen oder strittig, aber geeignet, ein Klima des Daueralarms zu erzeugen. In dieses Klima hinein spricht ein ranghoher NATO-Militär davon, man müsse alle Optionen prüfen, womöglich auch den Schlag vor dem Schlag. Man spürt förmlich, wie hier eine rote Linie rhetorisch aufgeweicht werden soll, bevor sie vielleicht eines Tages tatsächlich überschritten wird.

Dieser Vorgang ist ein Menetekel, das offenbar unter Radar blieb. Nicht, weil Russland plötzlich zum romantischen Gegenbild des Westens stilisiert werden müsste – das wäre lächerlich –, sondern weil das westliche Bündnis vor aller Welt seine eigene begriffliche und moralische Selbstbeschränkung zur Disposition stellt. Wer „Präventivschlag“ und „Verteidigung“ in einem Atemzug nennt, kündigt nicht nur die Grammatik des Völkerrechts auf, sondern auch die innere Ordnung des politischen Denkens.

Akteur im moralischen Weltkrieg

Dragone begründet seine Überlegungen mit dem Verweis auf Russlands „hybride Kriegsfüh-rung“. Man befinde sich, so der Tenor, längst in einem Graubereich von Cyberattacken, Sabota-ge, verdeckten Operationen. In einem solchen Umfeld, so klingt es an, sei das traditionelle Schema – Angriff, dann Verteidigung – zu simpel. Statt reaktiv müsse man „aggressiver und proaktiver“ handeln; eine Option sei, offensiver vorzugehen als der Gegner. Entscheidend ist hier der Perspektivwechsel: Die NATO beschreibt sich nicht mehr primär als Schutzschild eines klar umrissenen Territoriums, sondern als Akteur in einem allumfassenden, entgrenzten Konfliktfeld. Der Feind ist keine Armee an einer Grenze, sondern eine diffuse „Bedrohungslage“, die sich aus Verdachtsmomenten, Geheimdienstmeldungen, Medienkampagnen und politischer Rhetorik speist. Damit nähert man sich der Logik innenpolitischer Kampagnen: So wie der „Kampf gegen Rechts“ im Inneren mit ständig nachgereichten Gefahrennarrativen legitimiert wird, so entsteht nach außen ein „Kampf gegen Moskau“, dessen Intensität weniger von Fakten als von moralischer Aufladung abhängt.

Präventivschläge sind in einer solchen Logik nur die militärische Weiterführung einer bereits präventiven Moral: Man will nicht warten, bis etwas tatsächlich geschieht, sondern dem Gegner die Möglichkeit nehmen, eines Tages handeln zu können. Der Feind wird nicht wegen dessen Taten bekämpft, sondern wegen dessen bloßer Potenz zur Tat. Für eine konservative Sicht, die grundsätzlich vom Primat des Faktischen ausgeht, ist das nichts anderes als die Aufkündigung jener Ratio, die Europa nach 1945 zumindest formal zu bändigen versuchte.

Atommacht als Grenze der Hybris

Hinzu tritt der nüchterne strategische Skandal: Man spricht hier nicht über Luftschläge gegen irgendeinen gescheiterten Staat, sondern über Maßnahmen gegen eine Atommacht mit gesicherter Zweitschlagsfähigkeit. Jeder ernstgemeinte Präventivschlag gegen Russland müsste entweder so begrenzt sein, dass er militärisch kaum ins Gewicht fällt, oder so umfassend, dass er das Risiko nuklearer Eskalation bewusst in Kauf nimmt. Beides ist politisch verantwortungslos: Das eine aus Zynismus, das andere aus Wahnsinn. Dass ausgerechnet der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses öffentlich fast bedauernd darüber philosophiert, man sei anders als Russland rechtlich und ethisch gebunden als der Gegner, und dies als „Problem“ bezeichnet, markiert einen bemerkenswerten Zivilisationsbruch. Die Beschränkung durch Recht, Ethik und Justiziabilität war bislang der Stolz des Westens; sie wird nun als Handicap im geopolitischen Wettbewerb dargestellt. Das ist mehr als nur eine rhetorische Volte – es ist die implizite Einladung, diese Beschränkungen zu lockern, falls sie „operativ“ hinderlich werden sollten.

Konservative Politik definiert sich im Kern über die Einsicht in Grenzen: Grenzen der Macht, des Wissens, der Planbarkeit. Atomare Abschreckung war immer auch das Eingeständnis, dass be-stimmte Konflikte nicht „gewonnen“, sondern nur eingefroren, eingehegt oder politisch umgelenkt werden können. Die Rede vom „präventiven“ militärischen Vorgehen gegen Russland setzt an genau diesem Punkt an und versucht, die natürliche Grenze in ein bloß technisches Problem zu verwandeln – zu lösen durch neue Doktrinen, neue Waffensysteme, neue Mutproben.

Recht als Störfaktor?

Besonders aufschlussreich ist, wie Dragone das Verhältnis von Recht und Macht zeichnet. Die NATO und ihre Mitglieder seien – so sinngemäß – aufgrund ethischer, rechtlicher und justiziabler Gründe stärker eingeschränkt als Russland, das weniger Skrupel kenne. In dieser Darstellung verwandelt sich die eigene Rechtsbindung von einer zivilisatorischen Errungenschaft in eine Last, die es zu „überwinden“ gelte. Recht steht nicht mehr über, sondern neben der Politik – und wenn es stört, muss es angepasst werden. Genau hier liegt der konservative Kernkonflikt mit der gegenwärtigen westlichen Machtelite. Eine rechtskonservative Perspektive nimmt das positive Recht nicht als beliebig veränderbaren Spielball der Tagespolitik, sondern als Rahmen, der gerade in Extremsituationen seine Bewährungsprobe erfährt.

Wenn aber die höchste politische Brisanz – Krieg oder Frieden mit einer Atommacht – zum Anlass genommen wird, die eigene Rechtsgebundenheit öffentlich in Frage zu stellen, dann ist das mehr als ein strategisches Manöver. Es ist eine innere Revolution der Ordnungsvorstellungen. Man kennt diese Dynamik bereits aus anderen Politikfeldern. Ob bei der Migrationskrise, der Euro-Rettung, der Corona-Politik: Immer wieder wurde das Recht so lange interpretiert, gedehnt und „fortentwickelt“, bis es dem politisch Gewollten nicht mehr im Weg stand. Die Rede des NATO-Admirals ist, in diesem Sinne, nur der militärische Ausdruck eines längst eingeübten Musters – mit ungleich dramatischeren Implikationen.

Prävention als Herrschaftsprinzip

Wer nach außen den Präventivschlag bereits als sinnvolle Option andeutet, wird im Inneren schwerlich bei klassischer Gefahrenabwehr stehen bleiben. Die Denkfigur ist dieselbe: Man greift ein, bevor der Schaden eintritt, auf Basis von Szenarien, Modellen, Verdachtsmomenten. Was bei Cyberbedrohungen als „proaktive Verteidigung“ verkauft wird, erscheint im Inneren als „Schutz der Demokratie“ vor unliebsamen Parteien, Medien und Meinungen. Die semantische Verschiebung ist frappierend: Prävention war im bürgerlichen Staat einst eine technische Kategorie – Brandschutz, Gesundheitsvorsorge, Infrastruktur. Heute wird sie zur totalen Kategorie, die jede Form von politischer Machtausweitung legitimiert. Außenpolitisch begründet man die Aufrüstung mit russischen Absichten, die man zu kennen glaubt; innenpolitisch begründet man Zensur, Überwachung und Repression mit angeblichen Gefahren, die von oppositionellen Milieus ausgehen sollen. In beiden Fällen tritt an die Stelle konkreter Taten die Abstraktion der „Gefährdungslage“.

Ein konservatives Denken muss diesen Zusammenhang betonen: Wer nach außen Risiken dadurch zu kontrollieren meint, dass er Grenzen des Rechts und der militärischen Zurückhaltung überschreitet, wird auch im Inneren nicht plötzlich besonnen und maßvoll agieren. Der Präventivschlag als Denkfigur ist das Signum einer politischen Kultur, die dem Ausnahmezustand mehr traut als dem Normalfall.

Geopolitische Fürsorgepflicht statt Vasallentreue

Für Deutschland ist die Debatte um „präventive“ Optionen gegenüber Russland nicht nur eine abstrakte strategische Frage. Sie berührt in ihrem Kern die Existenzbedingungen dieses Landes: Energiesicherheit, industrielle Basis, territoriale Unversehrtheit. Dass Berlin in sicherheitspolitischen Fragen in einer strukturellen Juniorrolle gegenüber Washington, London und zunehmend auch Warschau agiert, hat sich inzwischen herumgesprochen. Die Stimmen, die aus Osteuropa „strengere Maßnahmen“ gegen Russland fordern, wissen, dass deutsche Interessen im Zweifel hintenangestellt werden. Gerade aus konservativer Perspektive wäre daher eine Radikalumkehr der Fragestellung geboten. Nicht: Welche „Optionen“ muss die NATO erwägen, um im Spiel der Kräfte nicht schwach zu wirken? Sondern: Welche Schritte muss Deutschland unterlassen, um nicht zum Spielball eines Konflikts zu werden, der jenseits seiner vitalen Interessen eskaliert? Ein politischer Realismus, der diese Bezeichnung verdient, fragt zuerst nach dem eigenen Gemeinwesen, seinen Städten, seinen Familien – und erst dann nach geopolitischem Prestige.

In dieser Perspektive ist die gedankliche Normalisierung von Präventivschlägen gegen Russland ein direkter Angriff auf die deutsche Sicherheit. Sie vergrößert die Gefahr, dass dieses Land in ein Szenario hineingezogen wird, das es nicht steuern kann, dessen Kosten es aber in Form zerstörter Infrastruktur, kollabierender Wirtschaft und womöglich physischer Vernichtung zu tragen hätte. Wer Deutschlands Interessen ernst nimmt, muss daher nicht trotz, sondern gerade wegen der NATO-Partnerschaft auf Deeskalation, Gesprächskanäle und eine strikt defensive Doktrin drängen.

Nicht zuschlagen, bevor – sondern nachdenken, bevor…

Am Ende läuft alles auf eine einfache, aber unerhörte Frage hinaus: Ist man bereit, den Begriff der Verteidigung so weit zu dehnen, dass er auch den unprovozierten Erstschlag gegen eine Atommacht umfasst – allein, weil man sich von dieser Macht bedroht fühlt oder politisch bedroht fühlen möchte? Wer diese Frage bejaht, verabschiedet sich von jeder rechtsstaatlichen und zivilisatorischen Selbstbindung. Die konservative Antwort ist eindeutig: Nein, ein Präventivschlag gegen Russland ist weder Verteidigung noch verantwortliche Politik. Er ist das konsequente Produkt einer Hybris, die das eigene Lager für moralisch überlegen und deshalb zu allem berechtigt hält. Eine rechtsintellektuelle Position muss dagegenhalten – nicht aus Sympathie für den Kreml, sondern aus Sorge um die eigene Zivilisation. Der wahre Präventivschlag, den Europa nötig hätte, wäre ein geistiger: gegen die entgrenzte Moralrhetorik, die sich anschickt, auch noch den letzten Rest politischer Vernunft zu übertönen.

Wer heute das Wort „Präventivschlag“ in den Mund nimmt und es mit „Verteidigung“ verknüpft, testet die Grenzen des Sagbaren – mit der klaren Absicht, die Verschiebung der Grenzen des Machbaren vorzubereiten. Er verrät eine Politik, die Begriffe nach Bedarf verbiegt. Er zeigt eine Elite, die in morali-schen Bildern denkt, aber mit nuklearen Realitäten spielt. Er offenbart eine innere Entgrenzung des politischen Handelns, in der Recht, Maß und Grenze nur noch taktische Variablen sind. Verteidigung war, ist und bleibt die Abwehr eines konkreten Angriffs oder einer unmittelbar be-vorstehenden, klar nachweisbaren Aggression. Alles andere ist semantische Kriegsführung, die am Ende die eigentliche Kriegsführung vorbereitet. Konservative Kritik hat die Pflicht, hier unmissverständlich zu bleiben: Man verteidigt nicht den Frieden, indem man den Krieg vorverlegt. Man verteidigt ihn, indem man die Sprache, das Recht und die strategische Nüchternheit gegen jene schützt, die aus dem Ausnahmezustand ein Lebensgefühl machen wollen.

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