Sommer 2006: Schweini, Poldi, Klinsi – In der Nationalmannschaft gab es weder Islamisten noch passdeutsche Fußballsöldner. Xavier Naidoo wurde für seine abweichende Meinung auch nicht von Tugendterroristen gecancelt, sondern sang den offiziellen WM-Song. Und noch nie gab es so viel Knuddel, wenn eine deutsche Elf auf den Platz lief. Auf den Straßen und vor den Videoleinwänden lagen sich die Deutschen in den Armen – und entdeckten, dass Patriotismus Glückshormone freisetzt und eine Gesellschaft zusammenschweißt. Ein Rückblick in eine Zeit, als die Welt für viele von uns noch in Ordnung war.
von Bernd Schumacher
Jürgen Klinsmann hatte die simple Parole ausgegeben: «Wir wollen Weltmeister werden!» Diese Ansage, kombiniert mit Strahlemann-Lächeln und unerschütterlichem Optimismus, beflügelte Spieler und Fans gleichermaßen. Dem Stuttgarter war tonnenweise Skepsis entgegengeschlagen, als er 2004 den Cheftrainerposten von Rudi Völler übernommen hatte.
Die Ausgangslage war für die deutsche Elf wieder einmal günstig.
Die Ideen des Schwaben, unter kalifornischer Sonne gereift, sorgten im nüchternen Heimatländle für Befremden: Psychologische Gespräche mit den Spielern, ein Motivationstrainer, ein neues Fitness-Programm, ein neuer Diät-Plan. Auf einmal sollte kohlehydratreiche Kost à la Fleisch mit Nudeln satt nicht mehr gut genug sein, um unsere Bundesadler über den Rasen fliegen zu lassen. 80 Millionen Hobby-Trainer witterten Ungemach aus Schickimicki-Land, denn der gute alte Abstauber Klinsi war nicht mehr wiederzuerkennen.
Klinsi voll auf Angriff
Doch die Kombination aus jungenhafter Unbekümmertheit, US-amerikanischem Zukunftsglauben und der simplen Tatsache, dass Klinsmann ein Mittelstürmer reinsten Wassers war und nichts mehr wollte, als zu stürmen und einzulochen, elektrisierte die Männer in Weiß-Schwarz so sehr, dass sie vom ersten Anpfiff an auf Angriff spielten. Das brachte ihnen gegen Fußballzwerg Costa Rica zwei Gegentore ein, die im Normalfall zu Heulen, Zähneklappern und einer Endabrechnung in Sport Bild geführt hätten, aber dank vierer eigener Tore – Lahm, zwei Mal Klose und Frings – sprachen nur noch die härtesten Kritikaster über Schwächen in der Abwehr. Diese hielt gegen die schwierigen Polen den Kasten sauber – natürlich auch dank des überragenden Jens Lehmann, der das Erbe des Finalverlierers von 2002, Olli Kahn, angetreten hatte. Zwei Spiele, zwei Siege, die nächste Runde war praktisch erreicht.

Die Ausgangslage war für die deutsche Elf wieder einmal günstig: Nach den bezwingbaren Gegnern Costa Rica und Polen wartete Ecuador im letzten Gruppenspiel. Die Südamerikaner waren im Vorfeld als Geheimtipp gehandelt worden, weil sie in der Qualifikation die Fußballriesen Brasilien und Argentinien geschlagen hatten. Auch ihre beiden Vorrundenspiele hatten die Latinos mit 5:0 Toren locker absolviert. Die Fachpresse unkte. Doch der wieselflinke Miro Klose schlägt gleich in der vierten Minute zu, setzt kurz vor der Halbzeitpause noch einen drauf, bevor Poldi nach einer Stunde den Sack zu macht – 3:0, Gruppensieg, zum ersten Mal seit 1970 alle drei Gruppenspiele gewonnen. 72.000 im Berliner Olympiastadion jubeln. Acht Tore in drei Spielen, Polen fährt nach Hause, Deutschland ins Achtelfinale, Balsam für die Fanseele.
Doch die Nestbeschmutzer erreichten nichts: Deutschland war im Rausch.
Während sich die Mannschaft auf den nächsten Gegner – Schweden – vorbereitete, schwoll die Begeisterung auf den Straßen und Plätzen des ganzen Landes an. Zum ersten Mal seit 1945 zierte Flaggenschmuck zigtausende Häuser, Balkone, Autos. Die kollektive Begeisterung galt nicht nur dem Sport: 2006 war das Jahr der nationalen Wiedererweckung, nachdem die Sieger- und andere Mächte die Freude über die wiedervereinte Nation nach 1989 zu unterdrücken verstanden hatten. Statt blutleerer EU-Fähnchen, die seither jedes Amtsgebäude zwanghaft schmücken müssen, flatterte Schwarz-Rot-Gold allüberall, um der Welt vom wiedererwachten Stolz aufs eigene Land zu künden. Die internationalistische Linke schäumte. Über harmlose Fußballfreunde wurden kübelweise Generalverdächtigungen ausgeschüttet. Nationalismus, Chauvinismus, Deutschtümelei – so lauteten die Vorwürfe der moralinsauren Spaßverderber. Der Bielefelder Konfliktforscher, vulgo: Pseudo-Wissenschaftler, Wilhelm Heitmeyer mäkelte herum, dass Patriotismus und Nationalismus dieselbe «gefährliche» Wurzel hätten, nämlich den Stolz auf das eigene Land. Grüner Nachwuchs und Linksjugend riefen zum Diebstahl von Fahnen. Doch die Nestbeschmutzer erreichten nichts: Deutschland war im Rausch, und wenn der Michel erst einmal bewegt ist, hält ihn nichts und niemand mehr auf.
Blitzkrieg gegen Wikinger
So wuchs die Vorfreude auf die Begegnung mit den braven Nordmännern, die mit dem bosnischen Import Ibrahimovic als Schreckgespenst drohten. Doch Poldi zog den Wikingern die Zähne: Doppelschlag in den Minuten vier und zwölf – das Smörrebröd war gegessen. Einmal mehr hatte Klinsis Blitzkrieg-Taktik gewirkt. Angriff ab der ersten Minute, schnelles Kombinationsspiel, kein langes Fackeln im Strafraum. So oft hatte noch keine deutsche Mannschaft vorne gelegen. Hier durften erwachsene Männer spielen wie Jungs auf der Straße: offensiv, beherzt, niemals pomadig oder beleidigt.
Deutschland hatte einmal mehr bewiesen, dass es nie aufsteckt.
Im Achtelfinale weitete sich der Blick auf die möglichen Titelkonkurrenten: Italien mühte sich mit einem müden 1:0 (gegen Australien!) in die nächste Runde, England und Portugal konnten ebenfalls nicht überzeugen. Argentinien erst in der Verlängerung weiter, Holland raus, Spanien raus. Einzig Frankreich brillierte als starker Viertelfinalist und – Deutschland.
Aber jetzt wurde es ernst. Denn im Viertelfinale wartete Argentinien. Der Weltmeister von 1978, der Finalgegner von 1986 und 1990, eine Fußballgroßmacht, ein Angstgegner. Die Statistik ließ nichts Gutes vermuten: Als eine der wenigen Mannschaften können die Albiceleste eine positive Bilanz gegenüber Deutschland aufweisen. Die Partie begann steinig. Beide Mannschaften zeigten gehörig Respekt voreinander und spielten wenige klare Torchancen heraus. Doch nach der Pause gingen die Südamerikaner nach einer schlecht verteidigten Ecke durch Ayala in Führung. Sofort danach zogen sich die cleveren Taktiker zurück und überließen den Deutschen das Mittelfeld. Ausgerechnet diese zentrale Einheit wurde durch die Auswechslung der Passgeber Schweinsteiger und Schneider geschwächt. Doch Klinsi hatte Glück: Der eingewechselte lange Bremer Borowski verlängerte per Kopf eine Ballack-Flanke, die Werder-Kollege Klose ins Netz köpfte: 1:1 in der 80. Minute. Deutschland hatte einmal mehr bewiesen, dass es nie aufsteckt und bis zum Abpfiff gefährlich bleibt. Die technische Unterlegenheit gegen die Ballzauberer von der Südhalbkugel glichen die Unsrigen immer wieder durch Kampf, Tempo und ungewohnte Härte aus. Die Verlängerung brachte keine Entscheidung. Beide Seiten schienen sich mit dem unausweichlichen Schlussakkord abzufinden. Jetzt trafen die legendär stählernen Nerven der Germanen auf die Routine von Profis, die in den Spitzenclubs der Welt spielen. Deutschland ist ungekrönter Weltmeister im Elfmeterschießen, und auch am 30. Juni 2006 untermauerte die Nationalelf diesen Ruf. Neuville und Ballack verwandelten sicher, während Torschütze Ayala an Lehmann scheiterte. Poldi und Borowski trafen. Cambiasso trat an, schoss, Lehmann hechtete, Lehmann hielt: Endergebnis 4:2, Deutschland war weiter.
Wem die Stunde schlägt
Jetzt stand nur noch eine Begegnung vor dem Finale auf dem Spielplan. Zur Bestürzung der Fans war es Italien, das im Halbfinale wartete. Die Azzurri hatten bisher ein lässiges Turnier absolviert und auch im Viertelfinale keine Mühe gehabt, die Ukraine mit 3:0 heimzuschicken. Keine andere Mannschaft außer der deutschen gilt traditionell als so turnierstark, darüber hinaus als so abgebrüht, so effektiv. Die Erwartungen der Fußballwelt waren hoch an diesem 4.Juli, und sie wurden nicht enttäuscht. Beide Mannschaften gehen von Anfang an offensiv zu Werke, suchen eine frühe Vorentscheidung.

Doch die Abwehr um Lahm, Friedrich, Mertesacker und Metzelder hält stand. Das Mittelfeld um Ballack, Schneider und Borowski kann dagegen wenige Akzente setzen, Torchancen bleiben auf beiden Seiten Mangelware. Poldi, Klose und Schneider können die wenigen guten Gelegenheiten nicht in Treffer ummünzen. Nach 90 Minuten steht es immer noch 0:0. Dem packenden Spiel fehlen nur noch die Tore. Die Verlängerung liefert eine ganze Reihe von guten Gelegenheiten auf beiden Seiten. Die Entscheidung liegt jetzt in der Luft. Lahm und zwei Mal Poldi können nicht verwandeln. Die Strafe kommt eine Minute vor Schluss in Gestalt von Mittelfeldgenie Andrea Pirlo. Mit einem ansatzlos geschlagenen Traumpass bedient er den nach vorne geschlichenen Verteidiger Fabio Grosso, der aus 12 Metern an Lehmann vorbei einlocht. Die deutsche Mannschaft wirft nach diesem Schock alles nach vorne, worauf Veteran Del Piero in der 121. Minute den 2:0 Endstand erzielt. Deutschland und Italien haben einmal mehr WM-Geschichte geschrieben, am Ende hatte die bessere Mannschaft gewonnen.
Beckenbauers Meisterleistung
Mit der WM 2006 erklomm auch der ungekrönte Kaiser der Deutschen noch einmal neue Höhen. Franz Beckenbauer hatte als Chef des Organisationskomitees nicht nur die WM heim ins Land geholt, sondern auch ein Turnier auf die Beine gestellt, das alle Experten als das beste in der WM-Geschichte bezeichneten. Alles lief: die Infrastruktur, der Zeitplan, die Sicherheit, die Vermarktung. Und nicht zuletzt die Finanzen: Sämtliche Spiele waren ausverkauft. Selbst die 1,5 Milliarden Euro teure Investition in 12 Stadien, die für die WM modernisiert wurden, zahlte sich aus. Den Ausgaben des WM-Organisationskomitees in Höhe von 430 Millionen Euro standen Einnahmen von 450 Mio. gegenüber. Nach der Krönung mit dem Weltpokal als Spieler 1974 und 1990 als Trainer stand Beckenbauer einmal mehr als Lichtgestalt des deutschen Fußballwesens fest.
Der Gastgeber verabschiedete sich mit einem Sieg gegen Portugal um Platz 3 aus dem Turnier, doch die Begeisterung für den «Weltmeister der Herzen» hielt an. Das Sommermärchen von 2006 vereinte die Nation 31 Tage lang vor den Bildschirmen, auf den Plätzen und in den Kneipen. Die Fans lagen sich in den Armen, weil ihre Helden das verkörperten, was Deutschland immer schon ausgemacht hat: Kampfkraft, Disziplin, eisernen Willen. Dazu kam in jenem Sommer eine Unbekümmertheit, die zu einem Angriffsgeist führte, den man lange vermisst hatte. Klinsi, der blonde Trainergott, hatte aus einer spielerisch nur mittelmäßigen Mannschaft eine eingeschworene Truppe geformt, die von der ersten bis letzten Minute alles in die Waagschale warf. Durch das Land ging ein Ruck – das Volk fand zu sich selbst: Die WM 2006 war ein Meilenstein bei der Wiederentdeckung des deutschen Nationalbewusstseins.
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