In der gestrigen Generaldebatte trat Kanzler-Darsteller Friedrich Merz im Bundestag ans Rednerpult, als habe er gerade einen Notruf aus Kiew erhalten. Er redete nicht über Deutschland. Er sprach zu einem imaginären Publikum jenseits des Dnjepr.
von Michael Münch
Während Alice Weidel kurz zuvor die Brandherde im Land sortiert und klar benannt hatte wie ein Feuerwehrkommandant nach drei Tagen Dauereinsatz, entschied der Kanzler sich für das genaue Gegenteil: Er zündelte im Ausland. Merz sprach stolz über 11,5 Milliarden Euro, die wir in diesem Jahr bereits in die Ukraine geschickt haben. Dann sprach er über 170 Milliarden für den Wiederaufbau der Ukraine (unerwähnt blieben natürlich die davon mindestens anzusetzenden 20 Prozent – 34 Milliarden – für korrupte Vermittler und Kickback-Provisionen). Geld, das also auf seinem Weg nach Osten vermutlich die maroden Turnhallen, kaputten Kitas, zerfallenen Brücken und Straßen und löchrigen Altenheime Deutschlands höhnisch grüßend überfliegt.
Merz wirkte stolz, beinahe salbungsvoll – als wäre gespielter Altruismus ein Ersatz für Haushaltsklarheit. In Deutschland sammeln derwei Rentner Pfandflaschen, schrumpft die Wirtschaft seit drei Jahren und schickt die Industrie Abschiedsbriefe, unterschrieben mit „Wir wären gern geblieben“. Das alles findet bei diesem Kanzler nicht statt. Er spricht lieber weiter über Panzer und Pakete – als ob der Wiederaufbau der Ukraine ein Wiederaufbau Deutschlands wäre, als ob man mit an das korrupteste Land Europas verschobenen Steuermilliarden die hiesigen Schlaglöcher zuschütten könne.
Schön, aber unleistbar
Gleichzeitig brennen die Kommunen lichterloh: 2022 hatten sie noch ein (mageres) Plus von 2 Milliarden Euro erwirtschaftet, ein Jahr später waren es schon minus 6 Milliarden, 2024 rauschten sie auf minus 24 Milliarden und im laufenden Jahr standen sie zur Halbzeit bei minus 19,7 Milliarden. Sauber. Das Statistische Bundesamt veröffentlicht keine vagen Prophezeiungen; es dokumentiert und protokolliert den Niedergang. Ein Minus des kommunalen Haushalte von weit über 30 Milliarden 2025 sind so gut wie sicher. Das Finanzministerium sagt, man werde „auf diesem Niveau verharren“. Abgesehen davon, dass schon diese Aussage reichlich vermessen ist und einen kühnen Zweckoptimismus darstellt: Verharren ist an sich schon skandalös. Als ob Armut jetzt eine Haltungsnote wäre. Doch die Kommunen ahnen, was ihnen blüht. Bis 2027, so warnen die Landräte, ist das Regal leer. Keine Rücklagen mehr, nur noch Kreisumlagen Dann fehlen für Kitas, Schulen, Vereine das Geld. Kulturförderung wird ganz gestrichen oder zum absoluten Luxusgut. Musikschulen, Jugendfreizeiten, Volkshochschulen – alles rutscht in dasselbe Regal wie Antiquitäten: schön, aber unleistbar.
Das ist die Realität. Und inmitten dieser nie dagewesenen Krise, angesichts dieses kommunalen Kahlschlags steht der Kanzler im Bundestag, hält die Ruderpinne eines tankgroßen Staates und merkt nicht, dass dieses Ruder längst blockiert ist. Der erste Offizier trägt die Kapitänsmütze, der Koalitionsvertrag dient als technisches Handbuch, das Gaspedal ist aus Prinzip abgeschraubt. Aus einem Schiff, das man wendig machen müsste, wird ein unmanövrierbarer musealer Tanker im Sturm.
Der Dachstuhl steht in Flammen
Merz wich auch vor konkreten Angeboten des Parlaments zurück: Alice Weidel hatte klare Maßnahmen auf den Tisch gelegt – doch der Kanzler erklärte fast alles davon für untragbar, nur um dann doch wieder in deren Richtung zu sprechen und Weidels Analysen im Kern Recht zu geben. Das wirkt nicht wie Führung, sondern wie politisches Kreisen ohne Kurs. Merz fabuliert von einem „neuen Konsens der Gerechtigkeit“, von einem Zusammenleben auf „neuer Grundlage“. Große Worte, die schweben, aber nicht landen. Wenn Formulierungen alles und nichts bedeuten, fehlt meist die Substanz dahinter. Gleichzeitig lobte er „attraktive Investitionsbedingungen“ – obwohl alle Zahlen etwas völlig anderes erzählen. Merz pries auch „sehr konkrete Entscheidungen“ – doch die sind im Alltag der Bürger völlig sie unsichtbar: Mehr Auflagen, mehr Steuerung, mehr Papier. Weniger Wirkung. Auffällig wurde auch, dass Merz und seine Regierung viel vom “Bürokratieabbau“ sprechen – doch faktisch entsteht immer mehr davon. Unternehmer spüren das schneller und deutlicher als jeder Redenschreiber.
Am Ende zeigte die Generaldebatte vor allem eines: Nicht den Fortschritt, sondern den totalen Stillstand. Und einen Kanzler, der selbst die klarsten Impulse im eigenen Haus nicht aufgreift. Vielleicht, weil er längst nur noch Koalitionsphysik verwaltet. Gerade deshalb bleibt der Eindruck bestehen, dass Deutschland nicht an fehlenden Möglichkeiten scheitert – sondern an einer Regierung, die Probleme wie umherfliegende Funken behandelt, während der Dachstuhl längst in Flammen steht.
Moralische Sperrfeuerpoesie
Die Wirtschaftsverbände haben es gestern offen gesagt, höflich, aber erschütternd: Die Reformen, die der Sommer bringen sollte, kamen nicht. Und Merz‘ „Herbst der Reformen“ fand gar nicht statt. Und nun, da die ersten Wirtschaftsverbände mit allen Parteien reden wollen und die Brandmauer infrage stellen, da Unternehmer nach Alternativen suchen und nach einem neuen Kapitän rufen: Da reagiert die Politik mit moralischer Sperrfeuerpoesie. Kontenauflösungen. Mietkündigungen. Anfeindungen. Warnungen. Kontaktverbote. Der uralte Satz „Kauft nicht beim Juden“ taucht in neuer Verpackung auf, diesmal heißt er: „Sprecht nicht mit der AfD“. Der Kanzler lächelt zu alledem tapfer, als sei all das nur ein vorüberziehender Regenschauer. Dass Merz es inzwischen geschafft hat, in seiner Unbeliebtheit sogar an Scholz in dessen letztem Amtsjahr (!) vorbeizuziehen, ist eine erhellende Pointe des politischen Jahres.
Und morgen folgt dann nun die Rentendebatte. Was wird uns da erwarten? Vielleicht dreht Spahn ja in letzter Minute die Junge Union noch um. Vielleicht rühren Trump, Selenskyj und Putin noch ein wenig im geopolitischen Suppentopf und lenken von diesem Sprengsatz für die Regierungskoalition ab, um dem Kanzler etwas Luft zu verschaffen. Vielleicht kommt ein „Signal„, vielleicht auch nur weiteres Schweigen? Man weiß es nicht. Nur eines ist sicher: Die heutige Generaldebatte hat rein nichts gebracht. – außer der Erkenntnis, dass ein Land im freien Fall seine eigenen Probleme nicht einmal mehr benennt – weil der Bundeskanzler lieber über andere Länder und fremde Kriege spricht.
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