Der Kanzlerkandidat mit den besten Chancen kommt aus der Union. Lange hat Friedrich Merz auf diese Gelegenheit hingearbeitet. Vor allem eine übermächtige Frau stand ihm dabei immer im Weg. Wird das jetzt anders?
von Paul Rosen
Als Friedrich Merz 1971 wegen „Disziplinschwierigkeiten“ das Gymnasium Petrinum in seiner Heimatstadt Brilon im Sauerland verlassen mußte, hätte niemand eine Wette darauf angenommen, daß der hochgewachsene junge Mann rund fünf Jahrzehnte später ernsthafte Aussichten haben würde, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Doch nach der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 könnte der ewige Traum des Friedrich Merz in Erfüllung gehen. Die von dem inzwischen 68 Jahre alten Merz ausgerufene „Politikwende“ droht jedoch trotz seiner markanten Reden gerade in der letzten Zeit steckenzubleiben. Bei Merz gilt: Selbst wenn er rechts blinkt, biegt er links ab.
Die schulischen Probleme des jungen Friedrich legten sich schnell. Der hochintelligente junge Mann, der schon in der Schüler Union allererste politische Erfahrungen sammelte, nahm nach dem Abitur am nahe gelegenen Gymnasium in Rüthen und dem Wehrdienst ein Jura-Studium in Bonn auf, flankiert von einem Stipendium der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Es folgte eine Bilderbuchlaufbahn: Staatsexamen, Richter am Amtsgericht Saarbrücken, Referent beim Verband der chemischen Industrie. Mit seiner Frau Charlotte, einer Juristin, hat der Katholik drei Kinder. 1989 errang Merz ein Mandat im Europaparlament.
Nach fünf Jahren in Straßburg war der Wechsel nach Bonn angesagt. 1994 trat Merz als Direktkandidat im Wahlkreis Hochsauerland an, den er seitdem (mit Unterbrechungen wegen Auszeit von der Politik) immer wieder gewann – zuerst mit 54,3 Prozent. Die schrumpften bis zur letzten Bundestagswahl 2021 auf 40,4 Prozent zusammen. Im Bundestag machte sich Merz früh in der Finanz- und Haushaltspolitik einen Namen. Mit dem damaligen Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble verband ihn der Hang zu einer strikt am Markt orientierten Wirtschaftspolitik; mit Sozialpolitikern wie mit seinem westfälischen Landsmann Karl-Josef Laumann kommt Merz weniger klar. Schäuble machte den begabten Redner zum stellvertretenden Fraktionschef für Wirtschaft und Finanzen.
Merkel war der Koch und Merz nur der Kellner
Als die CDU 2000 im Sumpf der Parteispendenaffäre versank und Schäuble von seiner damaligen Generalsekretärin Angela Merkel zum Rücktritt getrieben wurde, kam es in der CDU zu einer Diadochen-Lösung, von der jeder wußte, daß sie nicht gutgehen konnte – vor allem nicht, weil die meisterliche Handwerkerin der Macht Angela Merkel darin vorkam. Sie wurde Parteivorsitzende; Merz übernahm die Führung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. In dieser Zeit profilierte er sich zum Mißfallen der CDU-Chefin als konservativer Innenpolitiker, indem er etwa die „deutsche Leitkultur“ ausrief.
2001 wurde Merz übermütig und bescheinigte sich selbst die Qualität als Kanzlerkandidat der Union, um das rot-grüne Bündnis von Kanzler Gerhard Schröder abzulösen. Da sei das Echo schon vor dem Ruf gekommen, witzelte der damalige CSU-Generalsekretär Thomas Goppel, der die Kanzlerkandidatur für seinen Chef Edmund Stoiber reklamierte. Merkel, der klar gewesen sein dürfte, daß die Zeit für eine CDU-Regierung wegen der frischen Eindrücke der Spendenaffäre noch nicht reif war, überließ bei einem legendär gewordenen Frühstück mit Stoiber in Wolfratshausen dem Bayern die Kandidatur.
Merz wurde nicht gefragt und mußte feststellen, wer in der Union die Köche (Merkel und Stoiber) und wer der Kellner (Merz) war. Hinzu kam noch eine Geheimabsprache zwischen den Unions-Granden, ein klassischer Vertrag zu Lasten Dritter. Stoiber sagte Merkel zu, sie als Fraktionsvorsitzende zu unterstützen, falls die Union die Wahl verliere.
Der Sauerländer hat ein Doppeltrauma
So kam es, und Merz mußte erleben, daß er hinter seinem Rücken von Merkel und Stoiber abserviert worden war, obwohl Stoiber ihm einige Zeit zuvor noch Unterstützung signalisiert hatte. Hier wurzelt bei dem Sauerländer ein Doppeltrauma: Er hat ein Problem mit erfolgreichen Frauen in der Politik, hat die Niederlagen, die sie ihm beibrachten, nie verkraftet. Und er hat eine Wut auf die CSU, weil er sich von Stoiber verraten fühlt. Das wirkt bis heute nach.
Er selbst zog, nachdem Merkel Partei und Fraktion beherrschte, die – richtigen – Konsequenzen und nahm scheibchenweise Abschied von der Politik, wobei er aber bei mehreren Gelegenheiten öffentlich erklärte, er könne sich vorstellen, Minister in der Bundesregierung zu sein, was sich aber Merkel partout nicht vorstellen konnte. Gescheitert an Merkel, die auch seinen Plan einer einfachen „Steuererklärung auf dem Bierdeckel“ gnadenlos versenkt hatte, verließ Merz die Politik. Er begab sich in die Dienste des amerikanischen Finanzinvestors Blackrock, also der Leute, für die der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering den Begriff „Heuschrecken“ geprägt hatte. In seiner Spitzenzeit in der Finanzbranche hatte Merz 19 Aufsichtsratsmandate. Die damit verbundenen Termine waren nur mit Pilotenschein und später auch Privatflugzeug zu schaffen.
Politisch war von Merz in der Merkel-Ära wenig zu hören, allenfalls gelegentliche Kritik an der Kanzlerin, der er vorwarf, das Aufkommen und Erstarken der AfD nur mit einem „Schulterzucken“ hingenommen zu haben. Als Merkel 2018 nach schweren Wahlverlusten der Union bei Landtagswahlen ihren Rückzug als CDU-Chefin noch im selben Jahr und als Kanzlerin bis 2021 ankündigte, sah Merz seine Chance gekommen. Allerdings verlor er die Kampfkandidatur gegen Merkels Favoritin Annegret Kramp-Karrenbauer, die neue CDU-Chefin wurde. Merz zeigte wieder einmal eine Charaktereigenschaft, die man in seiner westfälischen Heimat als beleidigte Leberwurst zu bezeichnen pflegt: Er lehnte nach der Niederlage bei der Vorsitzenden-Wahl jede Mitarbeit in den CDU-Gremien ab.
Sein Agieren nach dem Ampel-Bruch war unwürdig
Seine Kritik an Merkel wurde jetzt heftiger, indem er die Arbeit der Bundesregierung als „grottenschlecht“ bezeichnete. Doch Parteitagsdelegierte mögen solche Kommentare vom Spielfeldrand nicht, und so konnte Merkel nach dem Scheitern ihrer Favoritin Kramp-Karrenbauer 2021 Armin Laschet als CDU-Chef durchsetzen. Nach der hoch verlorenen Bundestagswahl 2021 kam Merz zum Zuge: Erst boxte er den Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus weg. Dann setzte er sich in einer Mitgliederabstimmung deutlich gegen Norbert Röttgen als CDU-Vorsitzender durch.
Seine Arbeit als Oppositionsführer und schließlich sein Wirken als Kanzlerkandidat wurden erst durch die Schwäche und dann durch das Platzen der Ampel-Koalition erleichtert. Die Regierung zerbrach an ihren inneren Widersprüchen. Merz ließ seine Truppen nicht kämpfen, sondern begleitete den Untergangsprozeß des Kabinetts Olaf Scholz wie ein Notar und hielt das Kabinett in den Wochen vor Weihnachten sogar noch durch die Zustimmung zu wichtigen Gesetzen über Wasser. Es war eines Oppositionsführers unwürdig, zusammen mit den Fraktionsvorsitzenden von SPD und Grünen beim Bundespräsidenten auszuhandeln, wann Scholz die Vertrauensfrage zu stellen habe und wann es Wahlen geben solle.
Eine Opposition hat die Regierung zu jagen und zu stellen. Das hätte ein konstruktives Mißtrauensvotum und nicht Mauscheln mit dem Bundespräsidenten bedeutet. Doch Merz wollte nicht riskieren, mit „Zufallsmehrheiten“, also mit Stimmen der AfD, zum Kanzler gewählt zu werden. Hier wirkt das (inzwischen als verfassungswidrig erklärte) Diktum von Merkel nach der Wahl des thüringischen FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten nach, solch ein Vorgang sei „unverzeihlich“, weshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden müsse.
Mit der Brandmauer hat Merz die Union eingemauert
Wirken und Auftritte von Merz sind seit Jahren von dem Bemühen geprägt, vom Image des Großkapitalisten und Wertkonservativen wegzukommen, obwohl ihn eine bürgerlich bis konservativ orientierte Schicht von Parteimitgliedern (die gibt es an der Basis noch) gegen den Willen der vergrünten Funktionärsschicht in den Vorsitz gehievt haben dürfte. Wichtiges Signal war der von ihm maßgeblich mitbetriebene Parteiausschluß des früheren Verfassungsschutz-Präsidenten Hans-Georg Maaßen. Erinnert werden muß auch an seine Weigerung, den „Ludwig-Erhard-Preis“ anzunehmen, weil der konservative Publizist Roland Tichy Vorsitzender der den Preis vergebenden Stiftung war.
Merz überdauern wird sicherlich der von ihm geprägte Begriff der „Brandmauer“, die er zur AfD errichtete. Die „Brandmauer“ ist längst höher und länger als ihr ursprünglicher Schutzzweck der Abgrenzung. De facto sind CDU und CSU eingemauert. Zwei Tore sind vorhanden und werden sich nach der Bundestagswahl öffnen: Das eine führt zu den Grünen, das andere zur SPD. Einen Ausgang zur untoten FDP gibt es nur in der Phantasiewelt des Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Kubicki.
Als Kanzler will Merz eine Korrektur des Bürgergeldes, Entlastungen für Unternehmen und einen Abbau der Bürokratie, Rückgängigmachen des staatlich verordneten Endes von Benzin- und Dieselmotor sowie des Atomausstiegs, eine dauerhafte Erhöhung des Zwei-Prozent-Ziels der Verteidigungsausgaben sowie möglicherweise die Wiedereinführung der Wehrpflicht, so sehen es auch die Biographen Jutta Falke-Ichinger und Daniel Goffart. Außerdem will er die Migration begrenzen und den Klimaschutz-Standard bei Neubauten absenken.
Plötzlich tritt Merz als deutscher Mini-Trump auf
Allerdings muß man dem teils kritischen, meist aber freundlichen jüngst erschienen Werk entgegenhalten: Alle diese Punkte sind entweder mit den Grünen oder mit der SPD nicht durchzusetzen; die meisten Punkte sind sogar mit beiden potentiellen Koalitionspartnern nicht verhandlungsfähig. Der in Berlin von den Autoren ersehnte Machtwechsel wird eine Politikwende wohl um 360 Grad bringen.
Um es an Personen festzumachen: In einer Koalition mit der SPD wird man weiterhin Innenministerin Nancy Faeser, Arbeitsminister Hubertus Heil und Bauministerin Klara Geywitz sehen. In einer Koalition mit den Grünen, für die sich Merz in jüngster Zeit wieder erstaunlich offen gezeigt hatte, wird Robert Habeck den Deutschen weiter Wärmepumpen aufzwingen, Erdgasnetze stillegen und die schöne Kulturlandschaft mit Windrädern zupflastern. Annalena Baerbock wird als Außenministerin unter Merz weiter eine feministische Außenpolitik betreiben und ausländische Staatenlenker als Diktatoren beschimpfen.
Nach der Bluttat von Aschaffenburg fand Merz noch deutlichere Worte als früher: Er wolle am ersten Tag als Kanzler ein „faktisches Einreiseverbot“ für alle Menschen ohne gültige Einreisepapiere verhängen. Ganz abgesehen von der Frage, wie der plötzlich als deutscher Mini-Trump auftretende CDU-Chef das mit einem roten oder grünen Koalitionspartner hinkriegen will: Er hätte längst einen Bundestagsbeschluß mit ähnlichem Inhalt haben können. Aber Bundestagsanträge der Union ließ er zurückziehen aus Angst, es könnte mit Hilfe von AfD-Stimmen eine Mehrheit dafür geben. Doch nach den Morden von Aschaffenburg holte Merz die zurückgezogenen Anträge wieder hervor und will sie jetzt kurzfristig im Bundestag zur Abstimmung stellen – und Zustimmung der AfD in Kauf nehmen: „Wir werden sie einbringen, unabhängig davon, wer ihnen zustimmt.“
Die drängenden Probleme packt ein Kabinett Merz nicht an
Ob dies mehr ist als eine taktische Finte, um SPD und Grüne zu gemeinsamem Handeln in der Ausländerfrage zu zwingen oder ob die Brandmauer gefallen ist, wie AfD-Chefin Alice Weidel hofft, kann noch nicht gesagt werden. In der Vergangenheit pflegte sich Merz nach zunächst markigen Worten wegzuducken. Standhaftigkeit gegen den Mainstream ist seine Sache nicht.
Mit der CDU/CSU in der Regierung wird auch die grüne Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft unverändert weitergehen. Der Regierungsapparat ist bereits auf Transformation zur „Karbonfreiheit“ umorganisiert worden. Auch Migranten werden weiter kommen, und nur sehr wenige werden ausreisen oder ausgewiesen. Allenfalls in der Ukraine-Politik wäre ein Unterschied auszumachen: Wenn Merz mit den Grünen koalieren würde, käme es zur Lieferung des Marschflugkörpers Taurus an Kiew; mit der SPD ist dies auszuschließen.
Die Bundestagswahl am 23. Februar wird trotz der markigen Merz-Worte keinen grundlegenden Politikwechsel zur Folge haben. Die drängenden Probleme wird ein Kabinett Merz nicht anpacken geschweige denn lösen können, da die aus Unionssicht denkbaren Koalitionsoptionen eine Selbstblockade beinhalten. Sollte Merz nach der Wahl an der Brandmauer festhalten, wird er an ihr scheitern.
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