Deutschland

Stille Implosion: Der Schwund der Deutschen Industrie

Stille Implosion: Der Schwund der Deutschen Industrie
Implodiert: Wirtschaftsstandort Deutschland

Im ersten Quartal des laufenden Jahres haben zahlreiche deutsche Unternehmen angekündigt, massiv Stellen abzubauen und Investitionen aus Deutschland abzuziehen. Dahinter steht eine große Unsicherheit – die Folgen sind verheerend. Eine Chronik.

von Zan Blagojević

Erst kürzlich ist bekannt geworden, dass chinesische Hacker den deutschen Automobilkonzern Volkswagen jahrelang ausspioniert haben. Sensible Daten und deutsches Know-how wurden systematisch gestohlen, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Und die Tendenz der erstarkenden chinesischen Konkurrenz hält an: 2020 noch war mehr als jedes vierte neu zugelassene Fahrzeug in China entweder ein VW, ein Mercedes-Benz oder ein BMW. Jetzt ist es nur noch knapp jedes fünfte Fahrzeug. Schwache Nachfrage, zu hohe Kosten, eine fragile Energieversorgung und große Unsicherheit setzen deutsche Unternehmen vor allem hierzulande zu. In den vergangenen drei Monaten kündigten deshalb zahlreiche DAX-Konzerne, Mittelständler und Familienunternehmen eine Entlassungswelle an. Auch kleine Einzelhändler bleiben nicht unverschont.

Die Automobilbranche ist mit am stärksten betroffen: Waren dort 2018 noch über 830.000 Menschen beschäftigt, sind es fünf Jahre später nur noch knapp 780.000 Menschen. Internen Quellen zufolge plant die Volkswagen AG den Abbau von etwa 20.000 Stellen allein am Hauptsitz in Wolfsburg. Dort sind ca. 60.000 Arbeiter beschäftigt, also betrifft die Entlassungswelle jeden dritten. Noch ist diese Nachricht nicht offiziell. Gelockt soll mit sehr hohen Abfindungen oder großen Bonuszahlungen werden, teilweise in Höhe von einem Jahresgehalt.

Daraus kann man schließen, dass es den deutschen Autobauern aktuell noch einigermaßen gut geht, die Zukunft allerdings ungewiss bleibt. Investitionen werden bei Unternehmen sorgfältig geplant. Dabei ist es enorm wichtig, zukünftige Kennzahlen (z.B. Kapitalfluss, Kosten) möglichst präzise zu forecasten, also vorauszusagen. Unsichere Rahmenbedingungen erschweren die Rechnung, sodass Investitionen nicht nur komplett ausbleiben, sondern sogar an anderen Stellen gespart werden muss. Zu den Unsicherheiten zählt die instabile Energieversorgung oder zu hohe Energiepreise im Vergleich zum Ausland. 

Tausende Stellen im Automobilsektor abgebaut

Continental, börsennotierter Automobilzulieferer, will über 7.000 Stellen abbauen, davon knapp 2.000 im Bereich der Forschung und Entwicklung. Das sollte aufschrecken: Deutsches Know-how im Automobilbereich ist weltweit anerkannt und gilt als tragende Säule des deutschen Wohlstands. Gerade wenn der Markt nach neuen Antriebstechnologien sucht, sollte Deutschland in der Forschung und Entwicklung die Führung übernehmen.

Ein weiterer Automobilzulieferer ist Hella, Tochter eines französischen Mutterkonzerns, der jetzt angekündigt hatte, 10.000 Stellen zu streichen. Hella ist weltweit aufgestellt, dementsprechend ist noch unklar, ob die geplanten Entlassungen die Mitarbeiter an den deutschen Standorten treffen werden.  

Das Schicksal der Entlassungswelle trifft allerdings auch andere Industrien: So planen beispielsweise die Chemiekonzerne BASF und Bayer, Stellen abzubauen – wegen schlechter Nachfrage und zu hohen Produktionskosten. Auch Stahlkonzern Thyssen Krupp muss sparen: Der Vorstand setzt auf eine Verkleinerung der Stahlsparte, will knapp 5.000 Stellen streichen. Gleichzeitig soll die Sparte für einen Verkauf attraktiv gemacht werden. Bereits in der Vergangenheit waren immer wieder nur ausländische Investoren interessiert, jedoch keine deutschen.

Große Transformation wird auch bei den beiden süddeutschen Großunternehmen Bosch und SAP erwartet. Die Kosten seien zu hoch, es müsse eine Umstrukturierung vollzogen werden, welche den wertvollsten deutschen Konzern rund 2,2 Mrd. Euro kosten wird. Dazu sollen knapp 8.000 Stellen abgebaut werden. Bosch erwartet rund 7.000 Entlassungen. 

„Die Lage ist so schlecht wie lange nicht mehr“

Nicht nur bei den großen DAX-Konzernen ist ein erschreckender Trend zu erkennen. Auch kleinere Unternehmen und Mittelständler müssen sich auf Entlassungen einstellen – etwa 56 Prozent der Beschäftigten in Deutschland sind bei solchen kleinen und mittleren Unternehmen angestellt. Das betrifft knapp 22 Millionen Menschen. Sie arbeiten bei Firmen, die oft familiengeführt sind. Traditionsreich und in der Region verwurzelt, sind sie eine Säule des sozialen Zusammenhalts. 

Deshalb erschreckt es, wenn der ostwestfälische Haushaltsgerätehersteller Miele plant, 2.000 Stellen abzubauen und rund 700 neue Stellen nach Polen zu verlagern. Auch Vorzeigeunternehmen Stihl muss Stellen streichen. Zuletzt plante der Gerätehersteller ein neues Werk in Ludwigsburg (Baden-Württemberg), baut dieses jetzt aber in der Schweiz, obwohl dort zu höheren Löhnen gearbeitet wird. Deutschland sei „kein Selbstläufer mehr bei Investitionen“, sagte kürzlich der Aufsichtsratsvorsitzende Nikolas Stihl dem Handelsblatt.

Augenscheinlich spitzt sich die Lage somit auch für Mittelständler und Familienunternehmen immer weiter zu. Zu erkennen ist die Strategie, dass jetzt Investitionen eingefroren und aufgeschoben werden. Mitarbeiter sollen möglichst gehalten werden, aber keine neuen Stellen besetzt werden. „Die Lage ist so schlecht wie lange nicht mehr“, sagte auch Angelique Renkhoff-Mücke in einem Interview mit dem Handelsblatt. Sie ist geschäftsführende Gesellschafterin des Markisenherstellers Warema und prognostiziert, dass wir uns auf eine „langanhaltende rezessive Phase einstellen müssen.“

Die Unternehmen suchen deshalb Auswege. Sie führen ins Ausland, oft nach China. „Selbst Mittelständler vertiefen ihre Wertschöpfung und siedeln in China sogar ihre Forschung und Entwicklung an“, sagt Christian Rödl, Merhheitsgesellschafter des Beratungshauses Rödl und Partner. Hauptgrund sei dafür die hohe Steuerlast in Deutschland. Während der durchschnittliche nominale Körperschaftssteuersatz hierzulande bei ca. 30 Prozent liegt, sind es im Ausland viel weniger: Der OECD-Durchschnitt liegt bei ca. 24 Prozent, Polen verlangt nur 19 Prozent. 

Bedrohlich ist auch das Sterben der Kleinstunternehmen und Geschäfte. Sie können ihren Betrieb nicht ins Ausland verlagern. Erst kürzlich warnte der Deutsche Handelsverband (HDE) vor Schließungen im Einzelhandel. Seit 2015 haben über 60.000 Geschäfte in deutschen Innenstädten geschlossen, ein Rückgang von 17 Prozent. Schwache Nachfrage, Umsatzrückgänge und hohe Kosten treiben die Kleinbetriebe immer weiter in die Insolvenz. 

Der langsame Schwund

Die Parallelen zwischen großen DAX-Konzernen, Mittelständlern und kleinen Unternehmen sind offensichtlich. Die gesamte Wirtschaft leidet unter hohem Kostendruck. Zum einen sind die Energiekosten in den letzten 36 Monaten enormer Volatilität (Schwankung) ausgesetzt gewesen. Oft wird nun argumentiert, sie würden sich wieder auf Vorkrisenniveau befinden. Jedoch ist der entscheidende Faktor, wie sich die Strom– und Gaspreise im Wettbewerb verhalten: Im europäischen Ausland und insbesondere in China und den USA sind die Energiekosten weitaus niedriger. Deshalb sind diese Länder als potenzielle neue Produktionsstandorte attraktiver. Das Abschalten der Atomkraftwerke im Rahmen der Energiewende – dem unerreichbaren und unrealistischen Ziel hinterherlaufend, in sechs Jahren 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien zu beziehen – sind ein großer Unsicherheitsfaktor für die energieintensive deutsche Industrie.

Das bestätigt eine Studie der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm. Sie ist Mitglied des Sachverständigenrates, berät die deutsche Regierung. In vielen Zeiträumen des Jahres kann es zu sogenannten „Dunkelflauten“ kommen, wenn also der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Um diese Energielücken zu decken, müssen Batteriespeicher und Gaskraftwerke einspringen. Operativ ist dies natürlich mit Betriebskosten verbunden und deutet laut Grimm nicht darauf hin, „dass die Stromkosten im kommenden Jahrzehnt deutlich sinken werden.“ Auch die sogenannte grüne Transformation ist ein enormer Kostenfaktor. Sie betrifft vor allem deutsche Konzerne, die mühsam EU-Regularien befolgen und ständig ESG-Kriterien der institutionellen Anteilseigner erfüllen müssen.  

Was alle deutschen Unternehmen – von groß bis klein – gleichermaßen betrifft, ist die schwache Konjunktur. Inflation und die hohe Steuerlast in Deutschland drücken die Nachfrage, es kommt zu Umsatzrückgängen. Die Folge ist so still wie verheerend: Unternehmen überprüfen ihre Investitionen. Es passiert nicht ruckartig, bisher gehen Firmen noch nicht pleite – aber sie schrumpfen, sie bauen ab.

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