Deutschland

Die Kinder des Kalifats

Die Kinder des Kalifats
IS-Kindersoldaten in Syrien

Die Republik ist schockiert: Sechs Teenager, darunter eine 13-Jährige, planten Anschläge auf Kirchen und Synagogen, wollten „Ungläubige“ in Deutschland töten. Doch damit sind sie bei weitem nicht die ersten ihrer Art – immer mehr Jugendliche radikalisieren sich in nie da gewesener Geschwindigkeit.

von Pauline Schwarz

Albina H. ist 16 Jahre alt. Das Mädchen aus Iserlohn wollte unbedingt ausreisen – aber „nicht nach Mallorca in den Urlaub, sondern um sich dem Islamischen Staat anzuschließen“, erklärte NRWs Innenminister Herbert Reul am Freitag in einem Pressestatement. Ihre Chats führten die Ermittler nach kurzer Zeit zu weiteren Anhängern der islamistischen Terror-Gruppe, mit denen sie Anschläge auf Kirchen, Synagogen, Sportclubs oder Lokale plante. Anders als man nun denken mag, sind Albinas Mittäter jedoch keine erwachsenen Männer, die der IS aus Syrien oder dem Irak nach Deutschland geschleust hat – es sind Kinder. Zwei Jungen und drei Mädchen, das jüngste von ihnen grade mal 13 Jahre alt, wollten mit Messern, Molotowcocktails und Schusswaffen auf „Ungläubige“ losgehen. 

Während andere Kinder in diesem Alter sich grade mit ihrer Pubertät herumschlagen und anfangen, sich für das andere Geschlecht zu interessieren, wollten diese Jugendlichen im Namen Allahs, für den Islamischen Staat, töten. Sie planten einen „heimtückischen Mord aus niedrigen Beweggründen“ – genau wie es ein paar Monate zuvor der 16-jährige Rasul M. aus Brandenburg und der 15-jährige Edris D. aus Burscheid taten. Die beiden hatten einen Sprengstoff-Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Leverkusen und eine Synagoge in Köln geplant, wollten Ungläubige „anzünden“. Und auch sie sind lange nicht die ersten ihrer Art. Der IS war nie weg – und er hat nie aufgehört, Kinder zu Gotteskriegern zu radikalisieren. 

Wie schnell das geht, zeigt der Fall Schamsudin M. aus Bremerhaven. Der damals 18-Jährige soll laut Gerichtsakten das erste Mal im Januar 2022 mit islamistischem Gedankengut in Berührung gekommen sein. Von da an dauerte es nur zwei Monaten bis der gebürtige Tschetschene ein Gläubiger war, vier weitere, bis er in einer Chat-Gruppe mit anderen sein „Lieblingsvideo“ von Enthauptungen teilte und Clips, in denen Ungläubige lebendig verbrannt wurden, mit den Worten „Wollt ihr hier verbrannte Chicken sehen?“ kommentierte. Etwa seit dieser Zeit stand der Jugendliche dann auch in regelmäßigem Kontakt mit einem Mitglied des afghanischen Ablegers des Islamischen Staates, der ISPK („Islamischer Staat Provinz Khorasan“). 

Sprengstoffausbildung vom IS aus Afghanistan

Schamsudin M. schloss sich laut dem Generalbundesanwalt im Sommer 2022 der Terrorgruppe an und wurde damit beauftragt, eine IS-Terrorzelle in Deutschland zu gründen – er sollte als eine Art „Emir“ fungieren. Und das tat der Junge. Schamsudin übersetzte und verbreitete Propagandamaterial, warb aktiv Jugendliche für den IS an, half bei der Reise in die „Operationsgebiete“ und sorgte für den Transfer von Geld an den ISPK in Afghanistan. In einer von ihm gegründeten Chat-Gruppe rief er außerdem zu Anschlägen in Deutschland auf und verteilte dazu Anleitungen zum Bau von Sprengsätzen – hier rekrutierte Schamsudin den 16-jährigen Etrit P. aus Iserlohn.

Etrit erklärte sich dazu bereit, einen Sprengstoff-Anschlag zu verüben und wurde von Schamsudin dafür an einen IS-Kämpfer in Afghanistan vermittelt, der den Jungen unterwies. Warum der Deutsch-Kosovare am Ende von seinem Plan abrückte, ist nicht ganz klar, laut Generalbundesanwalt habe er Angst gehabt, dass sein Sprengstoff-Anschlag hätte vereitelt werden können – aus anderer Quelle hieß es, er habe die Anleitung zum Bau der Bombe einfach nicht verstanden. Fest steht jedoch, dass Etrit stattdessen einen Messerangriff auf Polizisten verüben wollte – während Schamsudin und andere in der Chat-Gruppe für sein Seelenheil beteten. 

Das Attentat wurde grade noch rechtzeitig von Sicherheitsbehörden vereitelt, die beiden jungen Männer wurden im September 2022 festgenommen und etwa ein Jahr später zu Haftstrafen verurteilt. Was bleibt, ist die Frage: Wie konnte es so weit kommen? Wie kommen Jugendliche überhaupt mit dem radikalen Islam und dem IS in Kontakt? Die Antwort ist so einfach, wie besorgniserregend: Der Großteil der Radikalisierung findet heutzutage im Internet statt – auf Plattformen wie YouTube und TikTok. Hier tummelt sich eine ganze Riege von islamistischen Hochglanz-Predigern, die tausende Follower haben. Sie haben sich ihrem jungen Publikum angepasst – mit moderner Kleidung, Sprache und einer jugendlichen Aufmachung ihrer Videos. 

„Pop-Islamisten“ mit tausenden Followern

Ein bekanntes Beispiel dafür ist „Muslim Interaktiv“, eine Gruppierung, die laut Hamburger Verfassungsschutz eine Tarnorganisation der seit 2003 in Deutschland verbotenen islamistischen Vereinigung „Hizb ut-Tahrir – Islamische Befreiungsfront“ sein soll – die sich die Errichtung eines Kalifats sowie die Einführung und Durchsetzung der Sharia zum Ziel gemacht hat. Und dem scheinen auch die Anhänger von „Muslim Interaktiv“ nicht abgeneigt zu sein, zumindest trugen Teilnehmer der Treffen in Hamburg, die Anfang April für mediale Aufregung sorgten, stolz Hoodies mit der Aufschrift „Kalifat“. Die vornehmlich jungen Männer in ihren 20ern und 30ern sind jedoch schon viel länger aktiv. 

Seit dem Jahr 2020 veröffentlicht der „Zusammenschluss von Muslimen“ regelmäßig Videos auf YouTube, die eine klare Botschaft haben: Wir sind hier, wir sind mächtig und wir werden zur Tat schreiten. Und das offenbar mit einem soliden Startkapital, denn die Videos sind extrem professionell gemacht: Mit Drohnenaufnahmen, dynamischen Schnitten und Kameraperspektiven oder Comic-Elementen wirken sie fast wie Spielfilme. Wobei natürlich auch protzige Autos, Motorräder und durchtrainierte Protagonisten nicht fehlen dürfen – denn darauf steht die Jugend schließlich. 

Zusammen mit Instagram, Facebook und TikTok haben die „Pop-Islamisten“, wie Ermittler die jungen Männer nennen, zusammengerechnet fast 50.000 Follower. Und diesen, vermutlich sehr jungen, Zuschauern präsentieren sie inzwischen vor allem Kurz-Videos, in denen steinzeitliche Lehren aus dem Koran gezogen werden und Muslime dazu angehalten werden, alles Westliche abzulehnen. Gesicht und Aushängeschild des Ganzen ist dabei der 25-jährige Lehramts-Student Joe Adade Boateng, ein Deutsch-Ghanaer, der sich „Raheem“ nennt. Er sitzt in einem professionellen Podcast-Studio und trägt coole Klamotten – zum Beispiel Trainingsjacken oder ein Hoodie mit dem eigenen Brand – während er mit zusammengezogenen Augenbrauen in die Kamera spricht. 

„Eine Art Einstiegsdroge“

Zum Beispiel darüber, dass Saudi-Arabien den Islam „beschmutzt“. Und das nur, weil das Land eine „halbnackte Frau“ – also eine Frau mit nackten Armen und ohne Kopftuch – zu einem internationalen Schönheitswettbewerb geschickt hat. Die Saudis seien „Verräter“, würden den Amerikanern – ihren „Herrchen“ – hinterherlaufen und allen Muslimen „Schande“ bereiten. Andere Themen, die Raheem bedient, sind unter anderem der angeblich grassierende Rassismus gegen Muslime, die AfD und die Verbreitung von aggressivem Israel-Hass. 

„Muslim Interaktiv“ sind aber bei weitem nicht die einzigen Islamisten, die mit solchen Themen auf Jugendfang im Internet gehen. Da wäre zum Beispiel noch Ibrahim El-Azzazi, auch Sheik Ibrahim genannt, der Muslimen zum Beispiel erklärt, warum sie nicht an den Festen der „Kufar“ (der „Ungläubigen“) teilnehmen dürfen. Oder Abul Karim, der seinen über 70.000 Followern erklärt, dass sie keine Muslime sind, wenn sie „Ungläubigen“ zu Weihnachten gratulieren – genau wie der islamistische Prediger Seddik Kalamp. Und auf den Weihnachtsmarkt dürfen Muslime laut dem Imam und Internet-Prediger Abul Baraa, der auch den Märtyrer-Tod glorifiziert, auch nicht. 

Der in Deutschland wohl bekannteste Internet-Prediger ist aber wohl der Salafist Pierre Vogel, der sich selbst Abu Hamza nennt. Der 45-Jährige wurde 2011 bekannt, als er öffentlich ein Totengebet für den Al-Quaida-Chef Osama Bin Laden forderte und wenig später das Gesicht des, vom Verfassungsschutz beobachteten, salafistischen Vereins „Einladung zum Paradies“ wurde. Vogel ist heute aber nicht nur ein islamistischer TikTok-Influencer, er ist ehemaliger Boxer und das macht er sich offenbar zunutze. In Köln arbeitet der Mann, den der Verfassungsschutz vor ein paar Jahren als „eine Art Einstiegsdroge“ in die salafistische Ideologie bezeichnete, in einem Sportstudio als Boxtrainer für Kinder und Jugendliche. Das „Bergheim“ wird auch mit der missionierenden „Da’wa“-Kampagne („Was danach“), die in salafistischen Kreisen beliebt ist, in Verbindung gebracht.

Deutsche sterben in Syrien als „Märtyrer“

Generell ist Kampfsport in islamistischen Kreisen sehr beliebt – genauso wie der bei Jugendlichen extrem verbreitete Hip-Hop beziehungsweise Deutsch-Rap. Eine islamistische Ikone, die beides verkörpert, ist der Berliner Dennis Cuspert. Der Deutsch-Ghanaer versuchte erst als Rapper „Deso Dogg“ Karriere zu machen und dann als Mixed-Martial-Arts-Kämpfer – bis er zu Allah, zum Salafismus fand. Er umgab sich in der seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachteten Neuköllner „Al-Nur-Moschee“ mit zweifelhaften Leuten, darunter auch Pierre Vogel – bis er sich schließlich dem IS anschloss. Cuspert trug dann den Namen „Abu Talha al-Almani“ und reiste nach Syrien aus. Von dort aus wurde er einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Propagandisten, bis er 2018 bei einem Drohnenangriff getötet worden sein soll. 

Ähnliches ereilte auch den Deutschen David G. aus Kempten, der im örtlichen Boxverein aktiv war, bis er sich radikalisierte, zum Islam konvertierte und 2013 nach Syrien in den Krieg zog – wo er ein Jahr später getötet wurde. Anders als Dennis Cuspert war David G. zuvor nie auffällig geworden, er scheint sich im Internet radikalisiert zu haben – wie viele andere Jugendliche es vor ihm taten und offensichtlich auch aktuell tun. Und das wahrscheinlich noch viel schneller als früher – dabei hatte es schon bei David G. nur Monate gedauert, bis sich ein harmloser Lehrling in einen islamistischen Gotteskrieger verwandelte. 

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