Der deutsche Inlandsgeheimdienst hat sich zum Aufseher über die politischen Meinungen der Bürger entwickelt. Äußerungen in sozialen Medien werden großflächig überwacht. Ausgerechnet der Verfassungsschutz verstößt damit gegen das Grundgesetz.
von Hubertus Knabe
Haben Sie den Eindruck, dass sich die Politiker in Deutschland nicht um die Sorgen der Bürger kümmern? Bezweifeln Sie, dass die Bundesregierung bei all ihren Entscheidungen souverän ist? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Messerangriffen auf deutschen Straßen und der Zuwanderung aus gewaltaffinen Gesellschaften? Dann sind Sie ein Fall für den Verfassungsschutz. Denn für den deutschen Inlandsgeheimdienst sind diese Meinungen Zeichen einer rechtsextremistischen Gesinnung.
Von der Öffentlichkeit wenig bemerkt, hat der Verfassungsschutz in den letzten Jahren einen gravierenden Wandel durchlaufen. Unter Berufung auf das Bundesverfassungsschutzgesetz kontrollieren die Geheimdienste des Bundes und der Länder inzwischen großflächig die öffentliche Kommunikation. Vor allem die sozialen Medien, in denen viele spontan ihrem Unmut über aktuelle politische Entwicklungen Luft machen, stehen dabei im Fokus. Was früher als Stammtischparolen abgetan wurde, führt heute dazu, dass friedliche Bürger zu Objekten geheimdienstlicher Überwachung werden.
Immer häufiger werden dabei Menschen, die ihr Grundrecht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nehmen, zu Verfassungsfeinden erklärt. Ungeachtet aller datenschutzrechtlichen Vorschriften landen sie auf einer Art Schwarzen Liste, weil sie angeblich Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verfolgen. Ging es früher dabei nur um organisierte Gruppen, die zielgerichtet das Recht auf freie Wahlen, auf parlamentarische Opposition oder die Bindung des Staates an Recht und Gesetz beseitigen wollten, stufen die Verfassungsschutzämter inzwischen auch zahlreiche einzelne Bürger als Extremisten ein. Die Betroffenen werden darüber weder informiert, noch bekommen sie die Möglichkeit eingeräumt, Widerspruch einzulegen.
Der Fall Maaßen
Ein Beispiel dafür ist, ausgerechnet, der ehemalige Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen. Laut einem geheimen Vermerk des BfV wurde das damalige CDU-Mitglied am 24. November 2023 als „Rechtsextremist“ in das Nachrichtendienstliche Informationssystem (NADIS) eingespeichert. Die Begründung dafür lautete: „Dr. Maassen äußert sich spätestens seit 2019 in verfassungsschutzrelevanter Weise, wobei sich insbesondere seit 2022 eine deutliche Verschärfung sowie eine Erhöhung der Zahl entsprechender Äußerungen feststellen lässt.“
Als „verfassungsschutzrelevant“ klassifizierte das Amt zum Beispiel diese Äußerung: „Trump ist für viele Amerikaner der Gegenentwurf zum woken Establishment, zu den linksglobalistischen Eliten an der Ostküste und an den Universitäten.“ Angeblich griff der im November 2018 in den einstweiligen Ruhestand versetzte Maaßen damit „auf antisemitische Begrifflichkeiten und Formulierungen zurück.“
Als weiterer Beleg diente eine Rede, in der Maaßen beklagte, dass man, egal was man wähle, am Ende immer grüne Politik bekomme. Dem BfV zufolge verunglimpfte er damit „die Parteien, das Parteiensystem und die Bundesrepublik insgesamt als autokratisch und scheindemokratisch.“ Dass er auf seiner Website erklärt: „Ich halte die freiheitlich demokratische Grundordnung für die beste Gesellschaftsordnung“, interessierte das Amt nicht. Stattdessen bekamen Journalisten die geheime Einstufung als „Extremist“ gesteckt, nachdem er angekündigt hatte, eine neue konservative Partei zu gründen.
Das Vorgehen gegen Maaßen ist kein Einzelfall. Im NADIS-Speicher waren laut Verfassungsschutzbericht Anfang 2025, abzüglich aller Sicherheitsüberprüfungen, mehr als eine halbe Million Menschen erfasst. Nach einer Gesetzesänderung von 2021, die es dem Verfassungsschutz erlaubt, auch nicht-militante Einzelpersonen zu beobachten, kamen allein in den letzten vier Jahren über 50.000 hinzu. Wie viele Bürger aufgrund ihrer öffentlichen Äußerungen als Extremisten gespeichert wurden, wollte das BfV auf Anfrage nicht mitteilen. Die Zahl dürfte jedoch mehrere Zehntausend, womöglich sogar über 100.000 betragen. Denn zieht man von der Zahl der erfassten Einzelpersonen die Anhänger extremistischer Zusammenschlüsse ab, bleiben mehr als 350.000 Registrierte übrig. Unter diesen befinden sich allerdings auch noch die „Kontaktpersonen“ des Amtes, deren Anzahl ebenfalls geheimgehalten wird.
Zielobjekt AfD
Wie sehr die geheimdienstliche Überwachung in den letzten Jahren ausgeufert ist, zeigt auch das Gutachten des Verfassungsschutzes zur AfD vom April 2025. Auf 1.108 Seiten werden darin über dreitausend Tweets, Facebook-Einträge, Wahlkampfreden und andere politische Äußerungen für verfassungsfeindlich erklärt. Über viele dieser Kommentare mag man den Kopf schütteln, doch die allermeisten sind vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Peter Müller erklärte denn auch nach der Lektüre, dass viele der zusammengetragenen Zitate „zum Nachweis der Verfassungsfeindlichkeit ungeeignet“ seien.
Als „rechtsextrem“ stufte der Verfassungsschutz zum Beispiel zahlreiche Äußerungen ein, denen zufolge die Bundesrepublik unter US-Einfluss stehe und nicht wirklich souverän sei – ein Vorwurf, den einst auch Olaf Scholz erhob, als der noch stellvertretender Juso-Vorsitzender war. Auch die Behauptung, die Nachkriegsentwicklung sei nicht frei und demokratisch gewesen, stellt nach Meinung des BfV eine „Verächtlichmachung“ dar. „Diese Äußerungen zielen darauf ab, die gesamte staatliche Ordnung als von außen oktroyiert und im Kern schädlich für Deutschland darzustellen.“ Dabei galt bekanntlich in der Bundesrepublik bis 1955 das Besatzungsstatut, und die DDR war Zeit ihres Lebens kein freier Staat. Erst 1991 erlangte Deutschland die volle Souveränität.
Ähnlich überzogen reagiert der Geheimdienst auf Kritik an den etablierten Parteien. Wer beispielsweise CDU, CSU, SPD, Grüne und Linke als „Kartellparteien“ bezeichnet, weil sie die AfD gemeinsam von politischer Mitwirkung ausschließen, steht angeblich nicht mehr auf dem Boden der Verfassung. Dabei steht der Ausschluss selber im Gegensatz zum Grundgesetz, dessen Artikel 21 die Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes ausdrücklich vorsieht.
Als extremistisch wird auch die Forderung des sächsischen Landtagsabgeordneten Norbert Mayer eingestuft, die „Altparteien-Mafia“ abzuwählen. Nach Auffassung des BfV verbiete es das Grundgesetz, „anderen Parteien die Daseinsberechtigung abzusprechen.“ Deshalb lägen verfassungsfeindliche Bestrebungen vor, wenn diese „in ihrer Gesamtheit als politische Dilettanten und Verräter beschimpft und verächtlich gemacht werden.“ Nach diesem Kriterium müssten auch die meisten Gegner der AfD als Verfassungsfeinde eingestuft werden.
Wer öffentlich feststellt, die etablierten Medien würden nicht objektiv informieren, gerät ebenfalls schnell ins Visier der Geheimdienstler. Weil der sächsische Bundestagsabgeordnete René Bochmann auf Facebook dafür eintrat, „sich von den Systemmedien abzuwenden, hin zur Realität“, wirft ihm das BfV vor, „die deutsche Medienlandschaft insgesamt“ zu diffamieren. Das sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Auch Vorwürfe, die Regierenden würden die Medien instrumentalisieren, verstießen gegen das „Demokratieprinzip“, weil sie „in ihrer verunglimpfenden Pauschalisierung darauf ausgerichtet sind, demokratische Institutionen und Strukturen selbst fundamental in Frage zu stellen.“
Sogar einzelne Begriffe werden vom Verfassungsschutz als Zeichen extremistischer Gesinnung gewertet. Wortschöpfungen wie „Demokratur“, „Ampelregime“ oder „DDR 2.0“ würden das Mehrparteiensystem verächtlich machen. Die Bezeichnung „globale Eliten“ sei „Ausdruck eines politischen Antisemitismus“. Begriffe wie „Abschiebeoffensive“ – 2023 vom damaligen Bundeskanzler Olaf Scholz öffentlich angekündigt – würden „groß angelegte Rückführungen tendenziell unabhängig von der individuellen und vom Gesetz festgelegten Schutzbedürftigkeit“ anstreben – und deshalb ebenfalls gegen das Grundgesetz verstoßen.
Kritik an Migrationspolitik „extremistisch“
Trotz dieser eigenwilligen Bewertungen räumen die Verfassungsschützer ein, dass die zusammengetragenen Aussagen zu Demokratie, Rechtsstaat oder Nationalsozialismus nicht ausreichten, um sie als „für die Gesamtpartei prägend“ anzusehen. Zur „Gewissheit verdichtet“ habe sich der Verdacht des Extremismus nur beim Thema Migration. Begründung: „Das an ethnischen Kriterien anknüpfende Volksverständnis der AfD zielt darauf ab, bestimmte Bevölkerungsgruppen von der gesellschaftlichen Teilhabe auszuschließen.“
Die Argumentation, warum die Kritik der AfD an der Migrationspolitik der Bundesregierung extremistisch sei, geht so: Weil Artikel 1 des Grundgesetzes die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, dürfe man nicht zwischen Einheimischen und Zuwanderern differenzieren. Wer auf Probleme mit bestimmten Migrantengruppen verweist, handele deshalb verfassungswidrig. Einzig mit dieser Begründung wurde die Gesamtpartei vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft.
Um dies zu belegen, hat das BfV auf mehr als 400 Seiten Zitate von AfD-Politikern zusammengetragen. Für extremistisch hält das Amt zum Beispiel, dass die Partei in Sachsen den Anteil nicht-deutschsprachiger Kinder in Kindergarten-Gruppen auf zehn Prozent begrenzen will. Aufgrund des bundesweiten „Betreuungsnotstands“ hätten viele Migrantenkinder dann keinen Zugang zu Kindertagesstätten. „Eine derartige Unterteilung führt zu einer Ungleichbehandlung von Kindern im Kita-Alter, die an ihre Ethnie anknüpft und damit menschenwürdewidrig ist.“ Nach dieser Logik wäre auch Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU) rechtsextremistisch, die sich unlängst dafür stark machte, den Anteil von Migrantenkindern in Schulklassen zu deckeln.
Wer im Internet schockiert auf Gruppenvergewaltigungen, Messermorde oder Massenschlägereien in Schwimmbädern reagiert, ist nach Auffassung des BfV ebenfalls extremistisch – jedenfalls dann, wenn er diese Ereignisse auf ausländische Zuwanderer zurückführt. So heißt es über einen Facebook-Eintrag der AfD-Abgeordneten Christina Baum: „Indem Baum die Gleichheit aller Menschen im Kontext mit der Häufigkeit der Begehung von ‚schweren Verbrechen‘ als ,Märchen‘ bezeichnet, bringt sie zum Ausdruck, dass Menschen mit einer nicht deutschen Herkunft häufiger zur Begehung entsprechender Taten neigten, und zwar – und das ist die aus verfassungsschutzrechtlicher Sicht relevante Komponente – aufgrund ihrer Herkunft.“
In ähnlicher Weise erklärt das BfV noch zahlreiche weitere Äußerungen für verfassungswidrig. Hashtags wie „#FestungEuropa“ oder „#Masseneinwanderungstoppen“ werden ebenso als Beleg angeführt wie Kritik an Plänen für eine Migranten-Quote bei Behördenmitarbeitern und Bundesgerichten. Moniert wird auch ein Satz des thüringischen AfD-Chefs Björn Höcke, den der frühere Innenminister Horst Seehofer fast wortgleich ebenfalls benutzte: „Die Migration ist die Mutter aller Krisen“. Sogar eine verballhornte Zeichnung aus „Tim und Struppi“, die die Junge Alternative nach den Ausschreitungen beim Eritrea-Festival in Gießen auf Facebook postete, hat es in das Gutachten geschafft.
Verfassungswidrige Reichstags-Inschrift
Seltsam muten auch die Ausführungen des Verfassungsschutzes zum Begriff „Volk“ an. Wer meint, das Wort bezeichne Menschen mit einer gemeinsamen Geschichte und Sprache, wird belehrt: „Mit einer solchen Vorstellung ist sachlogisch verbunden, dass deutschen Staatsangehörigen, die aufgrund ihrer Zuwanderungsgeschichte nicht dem ethnisch definierten Volk angehören, die Anerkennung als gleichberechtigte bzw. gleichwertige Mitglieder der rechtlich verfassten Gemeinschaft versagt werden soll.“ Der Schriftzug am Gebäude des Bundestag „Dem deutschen Volke“ wäre danach ebenfalls verfassungswidrig.
Der erzieherische Ton und die geradezu manische Suche nach Verfehlungen der Bürger erinnern unfreiwillig an Dokumente der Stasi. Der nebulöse Vorwurf lautet jetzt allerdings nicht mehr „anti-sozialistisch“, sondern „verfassungsschutzrelevant“. Laut Bundesregierung werden damit „Bestrebungen erfasst, die durch die systematische Verunglimpfung und Verächtlichmachung des auf der freiheitlichen demokratischen Grundordnung basierenden Staates und seiner Institutionen bzw. Repräsentanten geeignet sind, das Vertrauen der Bevölkerung in diese Grundordnung zu erschüttern.“ So ähnlich lautete auch § 220 des Strafgesetzbuches der DDR, der denjenigen mit Freiheitsstrafe bedrohte, der „die staatliche Ordnung oder staatliche Organe“ in der Öffentlichkeit „verächtlich macht oder verleumdet“.
Eine kritische Reflektion, in welch unguter historischer Tradition sich der Verfassungsschutz mit dieser Art von Gesinnungskontrolle befindet, sucht man in dem Gutachten vergebens. Die Meinungsfreiheit sei „kein Freibrief für Verfassungsfeinde“, betonte stattdessen der frühere BfV-Chef Thomas Haldenwang 2024 in einem Zeitungsbeitrag. „Wir sind politisch neutral, aber nicht gegenüber denen, die gegen unsere freiheitliche Demokratie agieren und agitieren.“ Unter seiner Ägide richtete das Amt 2021 sogar einen eigenen Arbeitsbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ ein.
Dass es kaum öffentliche Kritik an dieser Entwicklung gibt, hat vor allem einen Grund: Im „Kampf gegen rechts“, der die politische Debatte in Deutschland seit einigen Jahren prägt, scheinen alle Mittel recht. Während der Verfassungsschutz früher mit Argusaugen beobachtet wurde, nehmen heute selbst Menschenrechtsorganisationen die ausufernde Überwachung der Bürger mehr oder weniger gleichgültig hin. Viele Politiker und Aktivisten fordern sogar eine noch stärkere Kontrolle der sozialen Medien oder gleich ein Verbot bestimmter Meinungen. Ausgerechnet die Verteidigung der Demokratie dient als Rechtfertigung, diese einzuschränken.
In dieser Stimmungslage fühlen sich die Beamten des BfV ermächtigt, im Wege des „Entschließungsermessens“ mit juristischer Strenge darüber zu entscheiden, ob eine Person nur Missstände kritisiert oder den Staat diffamiert. Als Antreiber fungierte dabei nicht nur Behördenchef Haldenwang, sondern auch und vor allem die weisungsbefugte Ressortministerin Nancy Faeser (SPD). Sie war es denn auch, die an ihrem letzten Arbeitstag die Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ publik machte, obwohl die Fachabteilung ihres Ministeriums dagegen war. Schon nach wenigen Tagen musste das BfV seine Einschätzung allerdings wieder aussetzen.
Folgen der Überwachung
Die so entstandene politische Intoleranz bleibt nicht folgenlos. Sie hat nicht nur den Verfassungsschutz auf Abwege gebracht, sondern wirkt auch auf Polizei und Justiz. Zwar sind Haftstrafen aufgrund von Meinungsäußerungen – im Gegensatz zur DDR – hierzulande eine seltene Ausnahme. Doch polizeiliche Ermittlungen und sogar Hausdurchsuchungen hat es inzwischen mehrfach gegeben. Sie bringen nicht nur den Betroffenen in Bedrängnis, sondern wirken auch einschüchternd auf die Gesellschaft.
So erwirkte die Staatsanwaltschaft Hamburg 2021 einen Durchsuchungsbeschluss, weil ein Mann Innensenator Andy Grote (SPD) bei Twitter „so 1 Pimmel“ genannt hatte; erst über ein Jahr später erklärte das Landgericht Hamburg die Durchsuchung für rechtswidrig. Auch die Kollegen im bayerischen Bamberg ließen im November 2024 das Haus eines 64-jährigen Rentners durchsuchen, diesmal, weil er sich angeblich der Volksverhetzung schuldig gemacht hatte. Grund war ein bei „X“ veröffentlichtes Meme über Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, das diesen im Stil der Schwarzkopf-Werbung mit dem Schriftzug Schwachkopf PROFESSIONAL“ zeigte.
Auch an der Wohnungstür des Publizisten Norbert Bolz klingelten unlängst Berliner Polizisten, weil er 2024 in einem Tweet ironisch den SS-Spruch „Deutschland erwache!“ verwendet hatte. Eine Meldestelle „Hessen gegen Hetze“ hatte darüber das Bundeskriminalamt informiert, die wiederum die Staatsanwaltschaft Berlin in Marsch setzte. Diese leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren ein, und ein Richter Lars Franke vom Amtsgericht Tiergarten genehmigte die Durchsuchung.
Dass das BfV wegen einer der für verfassungswidrig erklärten Äußerungen Strafanzeige erstattet hätte, ist noch nicht vorgekommen. Das Amt ist auch nicht dazu verpflichtet, und angesichts der großen Anzahl von Fällen wäre die Justiz rasch überfordert. Doch auch ohne Einleitung eines Strafverfahrens kann die Überwachung durch den Verfassungsschutz einschneidende Folgen haben. Wurden bei Maaßen „nur“ sein Ruf geschädigt und seine Parteigründung torpediert, durfte der AfD-Landtagsabgeordnete Joachim Paul bei den Kommunalwahlen in Rheinland-Pfalz erst gar nicht antreten.
Die AfD hatte Paul als Kandidaten für die Oberbürgermeisterwahlen in Ludwigshafen nominiert. Amtsinhaberin Jutta Steinruck (bis 2023 SPD), die zugleich Vorsitzende der Wahlkommission war, hatte sich daraufhin an das SPD-geführte Innenministerium gewandt und um eine Einschätzung der Verfassungstreue des AfD-Bewerbers gebeten. Der Abteilungsleiter Verfassungsschutz hatte daraufhin „die aus Sicht des Verfassungsschutzes relevanten offenen und gerichtsverwertbaren Erkenntnisse“ übermittelt.
Falsche Literatur
Das elfseitige Dossier ist ebenso trivial wie erschreckend. „Am 18. und 19. Oktober 2024 lud Joachim Paul zu einem Bücherbasar im ‚Quartier Kirschstein‘ ein“, berichtete der Beamte zum Beispiel der Oberbürgermeisterin. „Dort stellte unter anderem das Chemnitzer ‚Antiquariat Zeitenstrom‘ diverse rechte Literatur aus.“ Der AfD-Abgeordnete habe außerdem die Landesregierung kritisiert, „da sie sich seiner Meinung nach nicht bemüht habe, sich in Bezug auf die Neuverfilmung der Nibelungensage mit Rheinland-Pfalz als Drehort in Szene zu setzen.“ Auch einen Text Pauls über das Buch „Der Herr der Ringe“, in dem dieser die konservative Geisteshaltung des Autors hervorhob, führte der Chef des rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzes ins Feld.
Die Wahlkommission beschloss daraufhin, Paul als Kandidaten nicht zuzulassen. Weil es sich nicht um einen „offenkundigen Willkürakt“ handele, lehnte es das Oberverwaltungsgericht ab, die Entscheidung vor den Wahlen aufzuheben. Erstmals wurde damit einem Oppositionspolitiker aufgrund eines Geheimdienstdossiers das passive Wahlrecht aberkannt. In der Folge blieben über 70 Prozent der Wahlberechtigten der Wahl fern und mehr als neun Prozent der verbliebenen Wähler machten ihren Wahlzettel ungültig.
Einschneidende Folgen kann die Beobachtung durch den Verfassungsschutz aber auch auf anderen Gebieten haben. Wer als „Extremist“ im NADIS-Speicher erfasst ist, darf in der Regel nicht mehr für Bundeswehr, Polizei und in anderen sicherheitsempfindlichen Bereichen arbeiten. In Sachsen wurde ein Ingenieur sogar mehrfach gekündigt, weil der Verfassungsschutz hinter seinem Rücken seine Arbeitgeber auf vermeintliche islamistische Verwicklungen hingewiesen hatte. In Bayern kann das Landesamt außer Arbeitgebern auch Vermieter informieren, wenn dies der „Wahrung schutzwürdiger Interessen des Empfängers“ dient. Da sämtliche Landesämter Zugriff auf NADIS haben, ist Denunziationen Tür und Tor geöffnet.
Eine Möglichkeit, den Eintrag rückgängig zu machen, gibt es praktisch nicht. Wer kein „besonderes Interesse“ darlegen kann, erhält nicht einmal Auskunft, ob und welche Daten über ihn gespeichert sind. Wie das BfV gegenüber Betroffenen verfährt, zeigt exemplarisch der Fall Maaßen. Weder ein anwaltliches Mahnschreiben noch eine Klage vor dem Kölner Verwaltungsgericht brachten das Amt dazu, die Einstufung als „Extremist“ zu löschen. Stattdessen bombardierte es seinen früheren Chef mit über 80 Seiten langen Schriftsätzen, die allein schon zermürbend wirken dürften. Maaßens Angaben zufolge belaufen sich seine Anwaltskosten inzwischen auf mehr als 20.000 Euro und ein Gerichtstermin ist immer noch nicht in Sicht. Mittlerweile hat er eine Spendenaktion gestartet.
Verfassungsfeind Verfassungsschutz
Mit dem Grundgesetz ist all dies nicht vereinbar. „In öffentlichen Angelegenheiten gilt die Vermutung zugunsten der freien Rede,“ entschied das Bundesverfassungsgericht 2008. „Die Bürger sind rechtlich nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen.“ Und drei Jahre später urteilte es: „Anders als dem einzelnen Staatsbürger kommt dem Staat kein grundrechtlich geschützter Ehrenschutz zu. Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten.“ Die Zulässigkeit von Systemkritik sei Teil des Grundrechtestaats.
Ausgerechnet der Verfassungsschutz verstößt damit gegen das Grundgesetz. Auch international bringt er Deutschlands Demokratie in Misskredit. Die ausufernde Überwachung ist zudem eine enorme Ressourcenverschwendung. Statt tatsächliche Gefahren für die innere Sicherheit in Deutschland abzuwehren, betätigt sich der Verfassungsschutz als Aufseher über die politischen Meinungen der Bürger.
Ob sich dies unter dem neuen BfV-Präsidenten Sinan Selen ändern wird, ist zweifelhaft. Offiziell hat der das Amt zwar erst am 8. Oktober angetreten, doch kommissarisch nahm er es bereits seit November 2024 wahr. Das voluminöse Gutachten zur AfD entstand unter seiner Verantwortung.
Wer sich die Mühe macht, das Gutachten zu lesen, erkennt unschwer die Entschlossenheit des Verfassungsschutzes, die AfD bundesweit als verfassungswidrig zu etikettieren. Dies wiederum ist die Voraussetzung, um sie vom Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen. Im vergangenen Jahr beantragten bereits 113 Bundestagsabgeordnete, ein solches Verfahren einzuleiten und das Vermögen der Partei einzuziehen. Schon jetzt ist Deutschland der einzige Staat in Europa, der seinen Geheimdienst gegen eine der neuen Protestparteien einsetzt, die auch anderswo die Unzufriedenheit vieler Bürger mit den politischen Eliten zum Ausdruck bringen.
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