Deutschland

Lebensmittelpreise – Wenn Essen zum Luxus wird

Lebensmittelpreise – Wenn Essen zum Luxus wird
Brennende Banknoten und ein Einkauf im Supermarkt: Steigende Lebensmittelpreise besorgen viele Bürger.

Lebensmittel werden in Deutschland teurer und teurer. Hinter abstrakten Meldungen über Preisentwicklungen, stecken reale Schicksale. Was Bürger berichten, ist erschreckend.

von Martina Meckelein

Der Wind peitscht die Regentropfen schräg vor sich her. Naß, kalt, bleierner Himmel – typisches Novemberwetter in der Hauptstadt. Der Hunger windet sich stumm und dumpf durch die Häuserschluchten. Vor manchen Fassaden reckt er sich in die Höhe, späht durch die Fenster in die Wohnungen. Noch zwängt er sich nur vereinzelt in die Heimstätten. Noch läßt er der Mangelernährung und – es geht auf den Winter zu – der Kälte den Vortritt. Doch bald ist er an der Reihe. Ist das nur ein Schreckgespenst? Sind wir Deutsche einfach zu verwöhnt? Hat die zweiprozentige Inflationssteigerung im Grunde keine Auswirkung auf unser alltägliches Leben?

„Nein, mir geht es wirklich nicht wunderbar“, sagt Susanne Koblitz (56) aus Berlin-Siemensstadt gegenüber der Redaktion. Die Mutter von zwei erwachsenen Töchtern, 38 und 32 Jahre, wohnt alleine in ihrer Wohnung. Sie hat kein Auto, „nicht mal einen Führerschein, nie gemacht“, sagt sie. Sie hat keinen Computer, keine Hobbys, fährt nicht auf Reisen. Den einzigen Luxus, den sie sich leistet, ist ein Hund und zwei Kaninchen. Sie liebe Tiere und ihr 39 Jahre altes Fahrrad, mit dem sie durch Spandau radelt, wenn das Wetter es zuläßt. „Was mir zur Zeit hilft, ist einfach die Tatsache, daß ich zeit meines Lebens ein sparsamer Mensch war.“

Die geborene Berlinerin ist ausgebildete Erzieherin, seit 2017 geschieden, sie bezieht 585,95 Euro Bürgergeld. „Dazu zahlt das Jobcenter meine Miete, sind nochmal 565 Euro.“ In ihrer Wohnung in Siemensstadt durchforstet sie die kostenlosen Anzeigenblätter und Postwurfsendungen nach Sonderangeboten. Vergangene Woche konnte sie zwei Kilo Mohrrüben zum Schnäppchenpreis ergattern. Wie andere Gedichte aufsagen können, kennt Susanne Koblitz die aktuellen Preise für Butter, Milch, Brot auswendig, und das natürlich nach Discountern aufgelistet. „Bei Edeka kosteten die 1,39 Euro, bei Netto 1,11 Euro und bei Kaufland 79 Cent. Aber nur von montags bis mittwochs. Na, dann gehe ich dorthin, wo es am billigsten ist und kaufe die dort ein.“ Die Schnäppchenjagd sei zeitaufwendig. „Aber die Zeit habe ich“, erklärt Koblitz.

„Die Grundsteuer wird doch auf uns Mieter umgelegt“

Heute ist Bürgergeldtag. „Der ist immer am letzten Werktag des Monats.“ Dann hebt sie das ganze überwiesene Geld, abzüglich der Kosten für die Monatskarte und das Kabelfernsehen, vom Konto ab. An diesem Freitag kauft sie Heu für ihre beiden Kaninchen, die sie noch in der Wohnung hält. Heu gibt es bei Edeka direkt an der U-Bahnstation am Siemensdamm. Die Ballen verstaut sie in einer ausrangierten Kinderkarre. „Sie sind mir zum Tragen zu schwer geworden und zu unhandlich.“

Immer mittwochs geht sie zur Tafel. Die Bezieher sind in vier Gruppen eingeteilt. Koblitz gehört zur grünen Gruppe. Die darf immer mittwochs von 15.15 bis 16 Uhr zur Tafel gehen. „Früher kostete ein Wocheneinkauf einen Euro, seit 1. Januar 2024 hat der Preis sich verdoppelt auf zwei Euro.“ Aber das sei kein Geld. „Die Qualität ist einfach klasse.“ Sie achte darauf, von welchem Discounter die Produkte kommen. „Vergangene Woche habe ich sogar einen Bienenstich bekommen, der kostet regulär 5,99 Euro. Das Stück war so groß, da konnte ich meiner Nachbarin etwas abgeben.“

Vor dem kommenden Jahr grause es sie aber. Das Haus, in dem sie seit 14 Jahren lebt, bekommt eine Strangsanierung. Es wird gedämmt. Vor vier Jahren gab es einen Eigentümerwechsel und bisher zwei Mieterhöhungen. Vor zehn Jahren waren es noch 378 Euro. „Die Grundsteuer wird doch auf uns Mieter umgelegt und die Sanierungskosten anteilig ebenfalls. Da werde ich mit dem Jobcenter erst einmal reden müssen und fragen, ob die auch weiterhin die Miete tragen.“

Die Rente des Mannes als Rettungsanker

„Also, klagen möchte ich nicht“, sagt uns eine Spandauer Ruheständlerin. „Ich bekomme 1.600 Euro Rente, damit komme ich mittelprächtig durch den Monat.“ Die Inflation merke sie bisher kaum. „Natürlich führe ich ein Haushaltsbuch. Und ich denke, so zum Vergleich zum Vorjahr zahle ich pro großem Wochenendeinkauf 20 Euro drauf. Aber ich benötige so wenig, da fällt mir persönlich die Preiserhöhung kaum auf.“

Die ältere Dame ist seit einigen Jahren Witwe. „Ohne die Rente meines Mannes würde das natürlich nichts werden. Denn ich hatte nur zwölf Jahre eingezahlt, dann mich um unsere Tochter gekümmert. Damit ich die 15 Jahre voll habe, habe ich freiwillig noch drei Jahre eingezahlt.“ Fünf Jahre ist die Mindestzeit, nach der man eine Rente bekommt. Ab 15 Jahren bekommen Mütter eine höhere Rente. Die Rentnerin bekommt einmal in der Woche aus Lichtenberg Besuch von ihrer Tocher. Telefoniert wird jeden Abend. 

Sparangebote wie Tafeln oder ältere Lebensmittel werden gern genutzt

Geld einsparen ist zwischen beiden schon ein Thema. „Natürlich könnte ich aus meiner großen Wohnung ausziehen und mich verkleinern“, sagt sie. „Aber dieser ganze Umzugsstreß, das will ich nicht. Und außerdem ist meine Wohnung so billig, dafür bekomme ich in ganz Berlin keine Wohnung, egal wie klein die ist.“ Dabei hält sie nichts mehr in Spandau. „Wissen Sie, die Nachbarn sind tot. Und mit den Ausländern, die in die Wohnungen eingezogen sind, kann man sich doch nicht unterhalten. Selbst wenn sie deutsch sprechen, verstehe ich sie nicht. Nett sind die aber schon.“

Mitten in Spandaus Fußgängerzone, der Carl-Schurz-Straße, geben sich die Leute die Klinke in die Hand. Über dem Eingang steht der Name des Geschäfts: „Spar dich satt“. Er ist Programm. Bei Marian Nixdorf (37) gibt es Deutsche Markenbutter im Angebot: ein Stück für 1,80 Euro, zwei Stück für 3,50 Euro oder Pfefferbeißer 300 Gramm für 1,20 Euro. 

„Den Laden betreibe ich seit sechs Jahren“, sagt der Betriebswirt und räumt kistenweise Kräuterquark ins Kühlregal. Er bietet Lebensmittel an, die aus Transportenschäden, Verpackungsumstellungen und Überproduktion stammen. Dazu auch Produkte, die eine kurze Mindesthaltbarkeit (MHD) aufweisen. 

Das Image wird besser

Im Schaufenster hängt ein Erklärplakat: „Es heißt ‘Mindestens haltbar bis’ und nicht ‘Absolut tödlich ab’.“ Einige seiner langjährigen Kunden kennt er mit Vornamen. Man begrüßt sich mit Küßchen. „Wie war der Urlaub?“, fragt eine ältere Dame. „Schön, Lastminute in die Türkei“, antwortet Nixdorf. „Zu Anfang waren die Leute skeptisch, heute haben wir ein positives Image“, freut er sich. 

Zwischen 200 und 1.000 Kunden kaufen bei ihm täglich ein. „Hierher kommen alle. Die Angestellten aus den umliegenden Geschäften, die in der Mittagspause einkaufen. Die Rentner, aber eben auch arme Bürger. Die Menschen werden in ihrem Einkaufsverhalten erwachsener“, sagt er. „Allerdings zieht das Geschäft richtig seit Anfang des Jahres an. Klar, alle Leute schauen mehr aufs Geld.“

Wie die EZB-Geldpolitik die Bürger ärmer macht

Die alltägliche Entwertung des Euro ist geplant. Laut den laufend durchgeführten offiziellen Berechnungen betrug die Inflationsrate seit der Euro-Einführung 1999 durchschnittlich 1,5 Prozent pro Jahr. Was also vor der Jahrtausendwende noch einen Euro gekostet hätte, würde demzufolge heute 1,40 Euro kosten. Wer damals 100.000 Euro unter das Kopfkissen gelegt hätte, würde demnach nur noch Waren im Wert von unter 70.000 Euro erwerben können.

Die Europäische Zentralbank (EZB) plant eine jährliche Teuerungsrate von „um die zwei Prozent“ – zukünftig sind drei Prozent im Gespräch. Sie pumpt dazu Anleihen und Gelder in den Markt – und zwar mehr, als die Wirtschaft wächst. So wächst die Schere zwischen den neu geschaffenen Werten und der Geldmenge.

Die EZB ermittelt die verursachte Inflation mit Hilfe eines hypothetischen Warenkorbs, der einige gravierende Schwachstellen hat, wie der Assistenzprofessor im französischen Angers Karl-Friedrich Israel und der Leipziger Professor Gunther Schnabl 2020 schrieben. Die Güter und Dienstleistungen des Warenkorbs, des sogenannten Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), enthalten drei wichtige Faktoren nicht oder zu gering: den „Zukunftskonsum“, die Wohnkosten und Ausgaben für öffentliche Güter. Zukunftskonsum beschreibt das Sparen oder Kreditaufnehmen für einen Hauskauf oder zum Aufbessern der kargen künftigen Rente. 

Inflation wächst schneller als die Löhne

Weiter nimmt die EZB an, daß der durchschnittliche Bürger nur 17 Prozent seines monatlichen Einkommens für Wohnkosten zahlt, obwohl laut Statistischem Bundesamt Deutschlands Durchschnittsbürger im Jahr 2021 rund 29 Prozent seines verfügbaren Haushaltseinkommens für Miete und Nebenkosten beziehungsweise den Unterhalt seines Wohneigentums aufwendete. Elf Millionen Bundesbürger zahlten gar 40 oder mehr Prozent nur fürs Wohnen. 

Auch nicht enthalten sind öffentliche Güter (Straßen, Gesundheitsversorgung, öffentlich-rechtliche Medien, Schulen, etc.), obwohl diese über die Steuern und Abgaben von jedem Konsumenten und Steuerzahler bezahlt und von vielen sogar genutzt werden. 

Israel und Schnabl haben diese drei Faktoren (Zukunftskonsum, Wohnkosten und Ausgaben für öffentliche Güter) einberechnet und kommen so auf eine durchschnittliche Inflation von 2,57 Prozent bis 2019. De facto ist das Lohnwachstum in Deutschland geringer. Die EZB-Politik macht ärmer (siehe auch Seite 10). Die 100.000 Euro unter dem Kopfkissen hätten heute weniger als die Hälfte der damaligen Kaufkraft. Daß es anders geht, zeigt die Schweiz. 

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