Die Untersuchungshaft in Deutschland hat eine Obergrenze von sechs Monaten – außer, wenn sie länger dauert. Dann nennt man es besondere Umstände. Die Rollator-Aufständigen sitzen seit fast drei Jahren, zwei sind schon gestorben. Und kein Richter oder Staatsanwalt schämt sich.
Ganz offensichtlich hat man die sogenannten „Reichsbürger“ zwar nicht wie den Grafen von Monte Christo im Chateau d’If eingesperrt und den Schlüssel weggeworfen, sondern nur in Hochsicherheitsgefängnissen wie JVA Stuttgart Stammheim (oben im Bild), JVA München Stadelheim und JVA Frankfurt am Main. Und die Schlüssel sind offenbar noch da.
Die sogenannten Reichsbürger-Terroristen sind alle betagt, einige sogar hochbetagt – eine Art Rollatorumstürzler. Der Hauptangeklagte Heinrich XIII. Prinz Reuß begeht am 4. Dezember 2025 seinen 74. Geburtstag und sitzt nunmehr seit über 1.060 Tagen – also nahezu drei Jahre – in Untersuchungshaft. 1.060 Tage, 1.060 Nächte. 3.180 Gefängnismahlzeiten.
Am 7. Dezember 2022 fand die spektakuläre Verhaftung von Heinrich XIII. Prinz Reuß und weiteren Mitangeklagten im Rahmen einer bundesweiten Anti-Terror-Razzia gegen die sogenannte Reichsbürger-Szene in Anwesenheit von handverlesenen Reportern, Kamerateams und Pressefotografen statt. Rund 3.000 Polizisten und Spezialkräfte waren im Einsatz. Sie durchsuchten zahlreiche Objekte in Bayern, Sachsen und Thüringen und nahmen mutmaßliche Mitglieder einer Gruppe fest. Diese Gruppe soll einen gewaltsamen Umsturz geplant und sogar einen Angriff auf den Bundestag vorbereitet haben. Bei der Verhaftung entstand ein ikonisches Bild – ein Opa in Handschellen mit Halstuch und Tweedjacke, passend zur Cordhose, wird von drei maskierten Elitepolizisten in Kampfausrüstung im Blitzlichtgewitter der geladenen Staatsjournalisten abgeführt.
Die Arsenale der Nirwana-Armee
Bei den Durchsuchungen des Hauses eines der Angeklagten sollen eine „unsachgemäß gelagerte Pistole“ und weitere Schusswaffen, sowie einige Munitionspäckchen sichergestellt worden sein. Auf dem Nachttisch fanden die Polizisten laut Gericht griffbereit einen Totschläger. An der Anschrift befanden sich auch mehrere Handys, ein Laptop, Tablets und Kameras. Zudem wurde den Angaben zufolge „Militärausrüstung“ gefunden, darunter ein Kevlar-Helm, ein Multifunktionsgürtel und ein Einhandmesser, sowie die „Attrappe einer Stabhandgranate“. Wenn sich das Gericht mit Kunststoff-Helmen, griffbereiten Totschlägern und Einhandmessern befassen muss, fehlen scheinbar irgendwie stichhaltige Beweise für ernstzunehmende Umstürzler. Überhaupt scheint es sich bei den Terroristen eher um eine betagte Komikertruppe gehandelt zu haben.
Aber es handelt sich um eines der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik.“ Die zusammengetragenen Beweise und Indizien umfassen demnach 400.000 Blatt und füllen 700 Leitz-Ordner.
Und die Waffen? 400 Schusswaffen seien sichergestellt worden, und auch einige 1.000 Schuss Munition. Dabei handelte es sich jedoch um Jagdgewehre und Sportwaffen. Auch Stichwaffen und Armbrüste wurden mitgezählt. Bei den sichergestellten Schusswaffen fanden sich keine Kriegswaffen. Es gab nicht ein einziges Sturmgewehr. Es gab eine Handgranatenattrappe, wie sie in der DDR bei der vormilitärischen Jugendausbildung zum Übungswerfen genutzt wurde. Es gab keine Waffen, die zur Bewaffnung auch leichter Infanteriekräfte der Bundeswehr und anderer Armeen gehören.
Die militärische Organisation gab es nicht einmal in Ansätzen. Sie mag in den Köpfen dieser Leute und in den Köpfen einiger Journalisten herumgespukt haben, existiert hat davon offenbar nichts. Das gilt vor allem für die geplanten Heimatschutzkompanien. Da haben sich ein paar größenwahnsinnige Rentner vorgestellt, 286 Kompanien aufzustellen? Das wären bei einer Stärke von nur 100 Soldaten pro Kompanie doch immerhin 28.600 Mann. Wo sind die denn? Wo haben sie ihre Uniformen und Schießgewehre versteckt?
Für die Erstürmung des Reichstages hatten die Reichsbürger 16 Kämpfer eingeplant. Die hätten es mit den 180 Polizeibeamten, die es zum Schutz des Reichstages gibt, aufnehmen sollen. Da hätte es nicht mal des Einsatzes eines einzigen KSK-Zuges gebraucht. Mit den paar Mitgliedern der Verschwörergruppe wäre es nicht einmal entfernt möglich gewesen, so etwas ähnliches wie einen Staatsstreich durchzuführen. Der ganze Reichsbürger-Putschversuch ist nichts als eine schlechte Karikatur. Es sieht für mich eher so aus, als wären die Angeklagten und diejenigen Journalisten, die uns der akuten Gefahr durch die Rollator-Bande glauben machen wollen, Nachwuchskräfte für den Komödienstadel.
Honecker und Krenz – mit der ganzen Sanftheit des Rechtsstaats
Ich bin kein Jurist. Aber ich habe selbst schon einmal aus politischen Gründen eine längere Zeit in Untersuchungshaft verbracht. Ich habe diese Ereignisse in meinem Roman „Wohn-Haft“ beschrieben. Ich kenne das Gefühl, wenn ein völlig empathiefreier Justizapparat einen Menschen einfach wegsperrt und man ohne die geringste Chance, sich wehren zu können, ohnmächtig in einer Zelle sitzt, während einem die Lebenszeit wie feiner Sand durch die Finger rinnt. Und ich spüre: Die Reichsbürger-Sache stinkt zum Himmel. Zwei der hochbetagten Angeklagten, Norbert G. und Hildegard L., sind im Alter von 70 Jahren, sozusagen bereits während ihrer Haftzeit, verstorben. Sie waren krank, und man hat sie erst kurz vor ihrem Tode in eine Klinik bringen lassen, wo sie das Zeitliche segneten.
Da war die deutsche Justiz zu Zeiten der Wiedervereinigung ganz anders drauf. Der 77-jährige Mauermordbefehlserteiler Erich Honecker bekam von der Justiz gnädige Haftverschonung und setzte sich noch am selben Tag nach Moskau ab, auch wenn er ein Jahr später zurückgeschickt wurde. Und der Mauermördergehilfe Krenz wurde 1997 wegen seiner Verantwortung für die Mauertoten zu sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Er trat die Strafe 2000 in der JVA Berlin-Hakenfelde an. Schon nach kurzer Zeit erhielt er Haftlockerungen. Er durfte die Haftanstalt zeitweise verlassen, etwa für Arbeit oder Arztbesuche. Begründung: Krenz galt als nicht fluchtgefährdet. Nach knapp vier Jahren Haft wurde er 2003 vorzeitig entlassen – wegen guter Führung und weil er bereits einen Teil der Strafe verbüßt hatte.
In Deutschland gibt es eine gesetzliche Obergrenze für Untersuchungshaft. Sie darf grundsätzlich höchstens sechs Monate dauern. Nur wenn besondere Gründe wie die besondere Schwierigkeit oder der außergewöhnliche Umfang der Ermittlungen vorliegen, kann sie darüber hinaus verlängert werden. Über eine solche Verlängerung entscheidet das Oberlandesgericht. Die „Verlängerung“ dient nicht der Strafe, sondern der Sicherung des Strafverfahrens. So etwas kann nur ein Jurist sich ausdenken – jahrelange Untersuchungshaft soll also keine Strafe sein. Eine Strafe ist es nur, wenn aus dem Untersuchungsgefangenen ein Strafgefangener wird, womöglich in derselben Zelle.
Beweismittel Konservendosen
Was, wenn am Ende gar keine Strafe ausgesprochen wird? Dann erhält Reuss 75 Euro pro Tag Haftentschädigung. Macht bei 1.060 verlorenen Lebenstagen 79.500 Euro. Ob bei einem 74-Jährigen die Anrechnung von drei Jahren Untersuchungshaft auf eine womöglich verhängte Freiheitsstrafe tröstlich ist, halte ich für ausgeschlossen. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern in Deutschland liegt aktuell bei 78,5 Jahren. Von Juli bis August 2025 ging der Reichsbürger-Prozess in die „Sommerpause“. Aber die Haft ging nicht in die Sommerpause. Den Verdächtigen, für die ja noch immer die Unschuldsvermutung gilt, wurde für weitere Wochen schlicht die Freiheit entzogen, damit die Herren Richter in ihren wohlverdienten Urlaub fahren konnten. Hoffentlich haben sie gut in ihren weichen Hotelbetten geschlafen, und das Familiendinner ist ihnen gut bekommen. Vielleicht waren ja auch die Enkel zu Besuch? Warum rührt sich bei diesen Justizbeamten kein Gewissen?
Wie ist es möglich, dass man in der Bundesrepublik Deutschland schon wegen ihrer Altersschwäche völlig ungefährliche Menschen jahrelang in Hochsicherheitsgefängnisse sperren und in Handschellen und unter strenger Bewachung, begleitet von schwer bewaffneten Beamten, zum Prozess in Frankfurt vorführen lassen kann?
Die Medien spielten bei der Meinungsbildung über die Reichsbürger eine maßgebliche Rolle. Ein Beispiel: Am 4.4.2024 schrieb FOCUS-Online: „Der Plan für einen Angriff auf den Bundestag durch eine militante Reichsbürger-Truppe begann im Sommer 2021. Eine Astrologin, die bei der damaligen AfD-Bundestagsabgeordneten Birgit Malsack-Winkemann tätig war, machte sich im Gespräch mit einem gleichgesinnten Corona-Leugner Gedanken über die laufende Impfwelle. Wie könne man seine Kinder davor schützen?, lautete die Frage….“ Da war noch nicht öffentlich, dass Kinder gar keine Corona-Treiber waren. Liest man Artikel aus dieser Zeit, fragt man sich ernsthaft, wer in diesem Fall die Verschwörungsideologen waren. Die Tagesschau hat auch Beweise für die Umsturzpläne: „Bei seiner Festnahme wurden neben Munition und Waffenteilen auch Unmengen an Konservendosen und Lebensmitteln gefunden, die er offenbar im Stil eines Preppers gehortet hatte“. Da kannten die Genossen vom Staatsfernsehen noch nicht den aktuellen Vorratskalkulator der Bundesregierung.
In Deutschland kommt es vor, dass Mord- oder Totschlagsverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen werden, wenn Verfahren zu lange dauern. In Hessen zwischen 2020 und 2023 waren darunter zwei wegen mutmaßlich versuchten Mordes und sechs wegen versuchten Totschlags oder bundesweit 2018 bis 2024 mindestens 65 Fälle, in denen Oberlandesgerichte Haftbefehle aufhoben, weil ihre Verfahren zu lange dauerten. Ursache war die Überlänge von Verfahren, die nach deutschem Recht nicht unbegrenzt mit U-Haft überbrückt werden darf. Dabei gelten freigelassene Mordverdächtige für die Normalos als besonders gefährlich. Trotzdem müssen Gerichte das Freiheitsgrundrecht höher gewichten, wenn Verfahren verschleppt werden. Das führt dazu, dass selbst mutmaßliche Schwerstkriminelle wieder auf freien Fuß kommen – ein massiver Vertrauensschaden für die Justiz.
„Rechte“ haben keine Rechte
Bei den Reichsbürgern ist die Ursache klar. „Rechte“ haben keine Rechte. Es geht laut der ehemaligen Innenministerin Nancy Feaser darum, dass sich niemand in dieser extremistischen Szene sicher fühlen kann. „Diese militanten ‚Reichsbürger‘ sind getrieben vom Hass auf unsere Demokratie“, hielt die ehemalige Innenministerin Nancy Faeser vor dem Prozessauftakt gegen die Reichsbürger fest. Zudem kündigte die SPD-Politikerin an: „Wir werden unsere harte Gangart weiter fortsetzen, bis wir militante ‚Reichsbürger‘-Strukturen vollständig offengelegt und zerschlagen haben.“
Prinz Reuß und die anderen spinnerten Reichsbürger werden als eine der Zielgruppen im Kampf gegen rechts geframt. Sie verfügen über keine klassische „Lobby“ im Sinne einer organisierten Interessengruppe oder politischen Unterstützung. Ihre einzige „Lobby“ sind ihre Strafverteidiger und ein paar vereinzelte Sympathisanten. Öffentlich oder politisch haben sie keine nennenswerte Unterstützung – im Gegenteil: Staat, Medien und Gesellschaft betrachten Reuss als Kopf einer terroristischen Vereinigung. Weder Parteien noch etablierte Organisationen treten für die angeklagten Rentner ein. Selbst die AfD, aus deren Umfeld eine Mitangeklagte (Birgit Malsack-Winkelmann) stammt, distanziert sich offiziell von den Reichsbürgern. Heinrich XIII. Prinz Reuss wird wohl keinen Fluchttunnel graben wie der Graf von Monte Christo. Ihm wird weiter der Sand seiner verbleibenden Lebenszeit durch die Finger rinnen. Deshalb tut er mir leid.
Als Nicht-Jurist glaube ich nicht daran, dass es bei diesem Prozess zu den angekündigten ernsthaften Verurteilungen kommen kann. Wer nachliest, was im Garten des Schlösschens von Heinrich XIII. Prinz Reuss gefunden wurde, ahnt dunkel, mit was für seltsamen Angeklagten und Anklägern wir es hier zu tun haben: eine vor Funkwellen schützende golden verzierte Pyramide, der Pharao lässt grüßen, und das Bauordnungsamt konstatiert einen Schwarzbau.
Der ganze Vorgang ist geradezu kafkaesk. Der Reichsbürger Prozess ist ein Bürokratie-Monster. 400.000 Seiten Anklage, die 700 Ordner füllen. Hat irgendein Anwalt oder gar Richter das alles gelesen? Die martialisch inszenierte Verhaftung der Angeklagten mit geladener Presse. Die operettenhaften Schutzmaßnahmen mit Schwerbewaffneten in Kampfausrüstungen bei den Gerichtsverhandlungen. Die gelegentlich – oft vor anstehenden Wahlen – im Chor und im absoluten Gleichklang von der tödlich rechten Gefahr barmenden Medien. Ein Mammutprozess, der auf drei Bühnen parallel aufgeführt wird. Ein Gerichtsprozes, der ohne erkennbares Enddatum derart langsam dahin schleicht, dass schon mehrere Angeklagte vor dem Urteil weggestorben sind. Und eine gescheiterte Justizministerin, die ohne je einen Angeklagten persönlich gesehen zu haben, ihre Motive zu kennen glaubte – nämlich Hass auf „unsere Demokratie“. Das Ganze ist grotesk.
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