Hintergründe

Milliardenbetrug: Wie Staat und Finanzlobby Millionen Sparer abzocken

Milliardenbetrug: Wie Staat und Finanzlobby Millionen deutsche Sparer abzocken
In Isny im Allgäu verbringt der ehemalige SPD-Sozialminister Walter Riester seinen Ruhestand.

Eine aktuelle Studie zeichnet ein erschreckendes Bild von der Einflussmacht der Finanzindustrie bei Gesetzgebung, politischer Landschaftspflege und medialer Massenmanipulation. Ein Beispiel unter vielen: „Riestern lohnt sich“ – für die Allianz, Commerzbank und Carsten Maschmeyer. Der Kunde aber wird abgespeist, mit Minierträgen, die die zahllosen Rentenkürzungen nicht annähernd kompensieren. Der Betrug hat System und nennt sich Umverteilung.

von Ralf Wurzbacher

Es war und ist eines der größten Umverteilungsmanöver der jüngeren deutschen Geschichte: Man beraube die Menschen eines wachsenden Teils ihrer gesetzlichen Rentenansprüche und nötige sie, die entstehende Lücke mit einer privaten Altersvorsorge zu füllen. Was 2002 unter dem Namen Riester-Rente ins Werk gesetzt wurde, hat Banken, Versicherungen und anderen Finanzdienstleistern gigantische Profite beschert – üppig subventioniert aus Steuergeldern. Für die vielen Kleinsparer, die bei bis heute abgeschlossenen 16 Millionen Riester-Verträgen auf die falschen Versprechungen hereingefallen sind, bleibt dagegen ein mithin mickriges Taschengeld hängen oder sie machen sogar Miese, sofern sie die Kontrakte vorzeitig kündigen. Allemal verlustreich ist das Geschäft für die große Mehrheit der Betroffenen, wenn man es mit den durch etliche Renten(kürzungs)reformen verordneten Einbußen bei den staatlichen Altersbezügen aufrechnet. Aber genau darum ging es ja: Umverteilung.

Die Bürgerbewegung Finanzwende hat in der Vorwoche eine Studie zu Macht und Machenschaften der Finanzlobby in Deutschland vorgelegt, Titel: „Im Auftrag des Geldes“. Als eines von sieben Fallbeispielen beleuchtet die Untersuchung die Vor- und Begleitarbeiten der unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) durchgesetzten Teilprivatisierung der Altersvorsorge, über die seinerzeit etwa die ABN Amro Bank jubelte, sie sei ein „Segen für die Finanzbranche“. Segensreich wirkte sich der Bruch mit der paritätisch finanzierten Rente auch für den Namensgeber Walter Riester aus, dem als damaligem Bundesarbeitsminister der Ruf eines „gestandenen Sozialdemokraten“ und kampferprobten Gewerkschafters anhaftete. Das war freilich nur ein Teil der großangelegten Täuschung, wonach es bei dem Projekt um die Interessen des „kleinen Mannes“ gehe. Überliefert ist dazu dieser Satz von Riester: „Jede Rentnerin und jeder Rentner wird jetzt und in Zukunft mehr Rente erhalten als nach altem Recht.“

„Beispiel für politische Korruption“

Wenigstens für sich selbst wurde die schöne Aussicht wahr. Nach Ende der rot-grünen Koalition kassierte Riester als einfacher Bundestagsabgeordneter mit die höchsten Nebenverdienste im Parlament – vornehmlich als Referent für Finanzunternehmen. Und kaum aus dem Bundestag ausgeschieden, stieg er in den Aufsichtsrat des Finanzdienstleisters Union Asset Management Holding auf. Seine geschäftlichen Verbindungen und die des früheren Wirtschaftsweisen Bert Rürup zum Finanzdienstleister AWD nannte Transparency International später ein „Beispiel für politische Korruption“. Davon gibt es etliche mehr. So zeigt die Analyse von Finanzwende auf, dass zum Zeitpunkt der Schröder’schen Rentenreform „mehr als jeder zehnte“ Bundestagsabgeordnete mit der Finanzbranche „verbandelt“ gewesen sei, „ob als Aufsichtsratsmitglied, wegen einer vorherigen Berufs- oder einer Nebentätigkeit“. Im Finanzausschuss war sogar „fast jedes fünfte Mitglied“ (18 Prozent) einem entsprechenden Unternehmen verbunden, darunter etwa der ehemalige Finanzstaatssekretär und CSU-Mann Hansgeorg Hauser. Er stand parallel zu seinem Mandat ab 2000 auf der Payroll der Commerzbank als „Beauftragter des Vorstands (für) die Pflege der Beziehungen zu Politik, Parteien“.

Überhaupt war die Riester-Zäsur Resultat einer langjährigen PR-Kampagne, in deren Mittelpunkt das Lamento über das umlagefinanzierte Rentensystem stand, das wegen der demographischen Umwälzungen angeblich nicht mehr zukunftsfähig und finanzierbar sei. Die Botschaft wurde den Menschen mit viel falscher Expertise und barer Münze über Monate und Jahre in die Köpfe gehämmert. Wie die Rechercheabteilung von Finanzwende ermittelte, spendierte der Finanzsektor von 1998 bis 2002, also zwischen Ankündigung der Rentenprivatisierung und deren Inkrafttreten, 4,5 Millionen Euro an die Parteien – doppelt so viel wie in der vorangegangenen Legislaturperiode. Fast eine halbe Million Euro ließ allein die Allianz-Versicherung springen, bis heute einer der führenden Anbieter von Riester-Produkten. Die beiden Haupteinfallstore für Lobbyisten waren das Arbeits- und das Finanzministerium unter Hans Eichel – noch so ein „Sozialdemokrat“ – später seien die Abgesandten der Wirtschaft „in Anhörungen, vertraulichen Hintergrundgesprächen und auf parlamentarischen Abenden“ aufgetaucht.

Propaganda mit Mutter Beimer

2003 sahen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Millionen Zuschauer eine dreiteilige „Dokumentation“, die mit dem vermeintlichen „Märchen von der sicheren Rente“ abrechnete und offen für die private Vorsorge warb, kofinanziert durch den neoliberalen Thinktank Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Selbst in der Familienserie Marienhof wurde die Lüge von der sicheren und profitablen Privatrente platziert, „heimlich gekauft“ vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), der bei einem Budget von jährlich 15 Millionen Euro bis zu 150 Lobbyisten dafür bezahlt, die Gesetzgeber im Bund auf Linie zu bringen. Zitat: „Sie schwirren aus, um Abgeordnete, Regierungsmitglieder, Parteien und Mitarbeiterinnen in Abgeordnetenbüros und Ministerien zu bearbeiten. Sie spannen Wissenschaftlerinnen für ihre Zwecke ein, platzieren ihre Positionen in Massenmedien und versuchen, mit Bildungsmaterialien an Schulen junge Menschen in ihrem Sinne zu prägen.“ Immerhin flog später der Marienhof-Deal, welcher der ARD 200.000 Euro verschaffte, auf und der GDV wurde vom Deutschen Rat für Public Relations gerügt. Das tat keinem weh und offenbarte rückblickend bestenfalls ein winziges Puzzleteilchen eines Riesenkomplotts, dessen Beteiligte und Profiteure aus Wirtschaft, Politik und Medien ansonsten unbehelligt blieben.

Aber trotz des ganzen Aufwands lief der Absatz an Riester-Kontrakten anfangs nur schleppend an. Deshalb wurde zwei Jahre später mit der nächsten Großreform nachgeholfen. Dabei hob Rot-Grün sechs von elf Kriterien auf, die ein Finanzprodukt erfüllen musste, um als Riester-Rente durchzugehen und staatlich gefördert zu werden. Gesorgt wurde ferner dafür, dass die Vermittler ihre Provisionen schneller erhielten, die natürlich stattlich ausfallen, wenn gemäß Studie „nahezu jeder vierte eingezahlte Euro in die Kosten“ fließt. Und prompt brummte das Business und produzierte Emporkömmlinge wie den Finanzvermittler Carsten Maschmeyer, Gründer des Allgemeinen Wirtschaftsdiensts (AWD) und Schröder-Intimus, dessen Kanzlerkandidatur er 1998 mit einer Anzeigenkampagne im Wert von 650.000 D-Mark pushte. Von lästigen Zügeln befreit gingen die von ihm schwerpunktmäßig vertriebenen Riester-Produkte ab 2005 richtig durch die Decke und machten ihn zum Multimilliardär, womit er gerne hausieren ging:

„Es ist jedoch so, als wenn wir auf einer Ölquelle sitzen. Sie ist angebohrt, sie ist riesig groß, und sie wird sprudeln.“

Und auch seine Förderer ließ er nicht hängen. Maschmeyer finanzierte Schröders Autobiographie, machte „Rentenexperte“ Rürup zu seinem Kompagnon bei der Maschmeyer-Rürup-AG und ließ Riester lukrative Reden bei AWD-Events schwingen.

Gesetze durchs Hintertürchen

Eine der wichtigsten und begehrtesten „Ölquellen“ für alle Arten von Profitgeiern ist bekanntlich die Staatskasse, zum großen Teil gefüllt mit dem Geld der einfachen Steuerzahler. Nach Berechnungen der Studienautoren summieren sich allein die Schäden, die die Lobbyarbeit der Finanzindustrie gegen die – einstmals geplante – Finanztransaktionssteuer, gegen – einstmals geplante – höhere Eigenkapitalauflagen für Banken als Reaktion auf die Weltfinanzkrise von 2008 sowie im Kontext der CumEx-Schiebereien verursacht hat, auf mindestens 341 Milliarden Euro. Weil entsprechende Zahlen bei einer Vielzahl weiterer Skandale noch nicht vorliegen, „dürfte der finanzielle Gesamtschaden für Wirtschaft und Gesellschaft um ein Vielfaches höher liegen“, konstatieren die Autoren. „Wenn eine Lobby derart unverfroren Gesetze und Regulierungsprozesse zum Schaden der Allgemeinheit beeinflussen kann, leidet darunter auch das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie“, befand Daniel Mittler, Geschäftsführer von Finanzwende Recherche in einem Pressestatement. Es gebe „eine gut geölte Drehtür von der Politik in die Lobby und zurück“, weshalb man zumindest teilweise von einem „gekaperten Staat“ sprechen müsse.

Die Analyse liefert hierfür auf 120 Seiten umfangreiches Anschauungsmaterial und ist äußerst lesenswert. Man erfährt zum Beispiel, dass die Deutsche Kreditbank (DKB) pro Jahr „über 1.000 Gesetzesverfahren und politische Initiativen“ mit ihren Lobbyaktivitäten begleitet, oder wie sich „Lobbysöldner“ mieten lassen, also Agenturen, die im Auftrag von Unternehmen und Verbänden in Ministerien und Bundestag Klinken putzen. Man gewinnt Einblick in das Arsenal der Lobbytechniken: von klandestinen Gesprächsrunden mit Entscheidungsträgern, über Auftragsgutachten, gekaufte Wissenschaftler, Parteispenden, Sponsoring, irreführende Gemeinwohlrhetorik, Meinungsmache an Kitas und Schulen („Deep Lobbying“) bis hin zu veritablen Gaunerstücken. Ein solches waren die Vorgänge rund um das Sepa-Begleitgesetz zum europäischen Zahlungsverkehr, das der Bundestag im November 2012 beschloss. Davor hatte der Branchenverband GDV mit einem Fünf-Punkte-Papier bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und im Finanzministerium für eine Maßnahme lobbyiert, die es ermöglicht hätte, Sparern bestimmte Gewinne vorzuenthalten. Als sich der Gang der Dinge verzögerte, wanderte das Rezept klammheimlich als Anhang in besagtes Sepa-Gesetz. Und hätte nicht der Bundesrat infolge der Proteste von Verbraucherschützern die Sache gestoppt, wäre der Schwindel geglückt.

Einheitsfront der Einflüsterer

In der Regel führt die Finanzlobby ihre Initiativen zum Erfolg, was sich schon durch ihre Omnipräsenz erklärt. Allein auf Bundesebene hat sie circa 1.500 Einflussagenten im Stall. Auf jeden im Finanzausschuss des Bundestages sitzenden Abgeordneten kommen rechnerisch 33 Influencer aus dem Geldbusiness, das sich deren Einsatz im Jahr 2000 gemäß des schon vor zwei Jahren veröffentlichten Finanzwende-Reports „Ungleiches Terrain“ schätzungsweise 200 Millionen Euro pro Jahr kosten ließ. Laut Lobbyregister des Bundestages (Stand November 2022) ist unter den 101 Organisationen mit den größten Lobbybudgets die Finanzbranche mit elf vertreten, danach folgt der Energiesektor mit neun und die Autoindustrie mit sechs Einträgen.

Allerdings ziehen die einzelnen Wirtschaftssektoren immer häufiger an einem Strang. Weil auch die Realwirtschaft durch den „Trend der Finanzialisierung“ immer stärker der Logik des Finanzsektors unterworfen ist, hat sich laut Analyse eine „Einheitsfront“ gebildet dergestalt, dass sich auch große Konzerne des produzierenden Gewerbes bei Themen wie Finanztransaktionssteuer und höhere Eigenkapitalauflagen für Banken immer wieder auf die Seite der Finanzlobby schlagen. Selbst bei divergierenden Interessen entstehen mitunter solche Allianzen. So wären nach dem Finanzcrash 2008 selbst Vertreter kleiner Geldinstitute gegen mehr Regulierung und höhere Eigenkapitalauflagen Sturm gelaufen, obwohl dies ihre Wettbewerbsnachteile verringert hätte.

Die tiefsten Abgründe macht die Studie da sichtbar, wo es „persönlich“ wird, wo es um Drehtüren, Nebeneinkünfte und geheime Kungeleien geht. Nach Recherchen der Initiative Abgeordnetenwatch.de hatten sich sogenannte Seitenwechsler in der abgelaufenen Legislaturperiode in nicht weniger als 509 Fällen mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihren Regierungsmitgliedern getroffen. Darunter Ex-Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP), der nun für die Allianz vorstellig wurde, oder der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber, der für die Deutsche Vermögensberatung und den Deutschen Unternehmensverband Vermögensberatung (DUV) wirkt.

Gescheitert – weiter Kasse machen

Dabei sind das noch „kleine Fische“, verglichen mit einem Sigmar Gabriel oder Joschka Fischer (Grüne). Ersterer, einst SPD-Chef und Bundesaußenminister, sitzt seit 2020 im Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Für die lobbyierte er 2020 per Direktdraht mit Merkel am Telefon und per E-Mail, damit die sich in Brüssel für die Aussetzung der EU-Bankenabgabe starkmachen möge. Im Wortlaut: „Ich bin ehrlich gesagt ziemlich froh, dass Sie gerade ,an Deck’ sind.“ Dagegen hatte er noch 2018 gegenüber der Bild-Zeitung bemerkt: „Man soll nicht an Türen klopfen, hinter denen man selbst mal gesessen hat.“ Und Fischer? Der frühere Außenminister und Vizekanzler gründete 2009 zusammen mit dem langjährigen Pressesprecher der Grünen im Bundestag, Dietmar Huber, die Lobby- und Beratungsfirma Joschka Fischer and Company, die unter anderem im Dienst der Deutschen Börse stand. Und dann ist da noch Friedrich Merz, der heute Chef der CDU und der Unionsfraktion im Bundestag ist und davor mal ganz vieles anderes war: Allein 2006 saß er in acht Aufsichts-, Verwaltungs- und Beiräten. Bis 2021 war er Vizepräsident des Lobbyverbands „Wirtschaftsrat der CDU” und von 2016 bis 2020 Aufsichtsrat des US-Vermögensverwalters BlackRock.

Apropos: Für BlackRock, den weltweit größten Vermögensverwalter, könnte künftig auch die von der Bundesregierung geplante Aktienrente interessant werden. Die will Finanzminister Christian Lindner (FDP) nicht nur mit zehn, sondern schon bald 100 Milliarden Euro Kapital bestücken. Damit die Erträge „einen spürbaren Effekt auf die Stabilisierung der Rentenbeiträge und des Rentenniveaus haben können“. Das wurde immer auch von der Riester-Rente behauptet. Heute ist sie als Ansparmodell fürs Altenteil praktisch unbrauchbar. Und trotzdem findet das Treiben, das Axel Kleinlein vom Bund der Versicherten (BdV) als „legalen Betrug mit staatlicher Unterstützung” brandmarkte, kein Ende. „Das Scheitern der Riester-Rente als Symbol für das Versagen der Versicherungsbranche soll um jeden Preis verhindert werden“, wird er in der Studie zitiert. Und was macht die Regierung: Zur überfälligen Abschaffung des Modells findet sich im rot-grün-gelben Koalitionsvertrag kein Wort – schon gar nicht im Flüsterton.

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