Noch immer sind einige Fragen beim Zerwürfnis zwischen Scholz und Lindner offen. Was erwartete der Kanzler konkret von seinem Finanzminister und wäre dies mit dessen Amtseid vereinbar gewesen?
von Ulrich Vosgerau
Was ist am Mittwoch, den 6. November 2024 passiert? In den Abendstunden ist bekanntlich die Ampelkoalition zerbrochen. Wie es letztlich hierzu kam, wird seitens des Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) wie durch den bisherigen Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), den er am Abend entlassen hatte, in der Sache durchaus übereinstimmend berichtet.
Strenggenommen kann der Bundeskanzler einen Bundesminister nicht unmittelbar selbst entlassen, sondern muß dem Bundespräsidenten die Entlassung vorschlagen. So sieht es Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes vor. Der Bundespräsident muß dem „Vorschlag“ dann allerdings nachkommen. Trotz der übereinstimmenden Schilderungen der Ereignisse bleiben gewisse Fragen offen.
So erklärte Lindner in mehreren öffentlichen Stellungnahmen, unter anderem im ZDF, der Kanzler habe in der letzten Sitzung des Koalitionsausschusses schließlich ultimativ von ihm verlangt, „die Schuldenbremse des Grundgesetzes auszusetzen“ beziehungsweise „aufzuheben“. Aus seiner Sicht hätte das jedoch eine Verletzung seines Amtseides (Art. 64 Abs. 2 i.V.m. 56 GG) bedeutet. Dies wird vonseiten des Bundeskanzlers offenbar in der Sache bestätigt.
Scholz attestiert Linder charakterliche Mängel
Scholz soll Lindner im Hinblick auf die nächsten Aktivitäten einer fortbestehenden Ampelkoalition ein „Angebot“ unterbreitet haben. Es ist die Rede von einem Sammelsurium verschiedener wirtschaftspolitischer Maßnahmen sowie der Forderung eines „Überschreitungsbeschlusses“ mit Blick auf die grundgesetzliche Schuldenbremse in Höhe von 12,5 Milliarden Euro, die aus dem Haushalt ausgelagert werden sollten. Dabei hatte Scholz wohl die Unterstützung der Ukraine im Sinn – von militärischer Hilfe bis zur Unterbringung und Unterstützung von Flüchtlingen in Deutschland. Lindner lehnte dies jedenfalls ab.
Scholz begründete die Entlassung Lindners am späteren Abend dann mit einer in der bisherigen Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik beispiellosen öffentlichen Erklärung. In dieser zog er über seinen ehemaligen Finanzminister öffentlich geradezu her und führte die unterschiedlichen haushaltspolitischen Vorstellungen auf vermeintliche charakterliche Mängel Linders zurück. Am Sonntag abend griff er das Thema in der ARD-Sendung „Maischberger“ erneut auf: Lindner habe versucht, die Milliardenhilfen für die Ukraine „auf Kosten der Bürger dieses Landes“ zu finanzieren. „Na, auf wessen Kosten denn sonst?“, fragte sich vermutlich nicht nur „Cicero“-Redakteur Ferdinand Knauß.
Zur Sache selbst führte der Kanzler noch am Mittwoch abend aus: Lindner habe sich „einer Lösung, einem Kompromißangebot verweigert“. Nämlich welchem? „Das Grundgesetz sieht in Artikel 115 ausdrücklich vor, in einer außergewöhnlichen Notsituation einen Überschreitungsbeschluß zu fassen.“ Denn: „Wenn eine Notsituation vorliegt, dann aber hat die Bundesregierung nicht nur das Recht zu handeln. Dann ist Handeln Pflicht.“
Haushaltsrecht ist Königsrecht des Parlaments
Das Problem an der in der Sache ja durchaus übereinstimmenden Darstellung ist aber, daß es verfassungsrechtlich nicht Sache des Bundesfinanzministers ist, die Schuldenbremse des Grundgesetzes „auszusetzen“ oder „aufzuheben“ – auch wenn Lindner selbst es so formuliert hat. Denn jeder weiß: Das Haushaltsrecht ist das Königsrecht des Parlaments, die Keimzelle parlamentarischer Rechte gegenüber der (ursprünglich königlichen) Verwaltung.
Zur Überschreitung der Kreditobergrenzen des Grundgesetzes ist daher – sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen, nämlich eine Naturkatastrophe oder eine anderweitige außergewöhnliche Notsituation, die sich der Kontrolle des Staates entzieht, erfüllt sind – ein Bundestagsbeschluß mit Mehrheit der Mitglieder des Bundestages („Kanzlermehrheit“; Art. 115 Abs. 1 Satz 6, Art. 121 GG) erforderlich. Was hat also der Bundeskanzler vor diesem Hintergrund in Wahrheit und ganz genau von Finanzminister Lindner verlangt?
Denkbar und nicht fernliegend wäre es, daß es um die Zustimmung zu und die Unterstützung einer Regierungsinitiative ging, durch die dem Bundestag eine entsprechende Beschlußvorlage vorgelegt werden sollte. Der Beschluß (gemäß Art. 115 Abs. 1 Satz 6 GG) kann sowohl als einfacher, konstitutiver Beschluß des Bundestages wie auch als Gesetzesbeschluß ergehen, letzteres eben dann, wenn die Feststellung mit einem entsprechenden Nachtragshaushalt gleich verbunden wird.
Worum ging es bei dem Streit in Wahrheit?
Vielleicht war es aber doch noch einmal anders und in Wahrheit ging es um ein neues „Sondervermögen“ (oder um es deutlicher zu sagen: Sonder-Schulden), mit dem die Schuldenbremse des Grundgesetzes umgangen werden sollte, indem bestimmte Schulden projektbezogen aus der Jährlichkeit des Haushalts herausgenommen werden und dann – wirklich oder vermeintlich – der „Schuldenbremse“ des Grundgesetzes jedenfalls nicht mehr unmittelbar unterfallen. Die näheren Einzelheiten sind sehr strittig und teilweise noch nicht vom Bundesverfassungsgericht geklärt.
Es scheint aber auf der Hand zu liegen, daß es den FDP-Politiker jedenfalls entscheidend umtrieb, nicht auch noch die politische Verantwortung für eine neuerliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art des Urteils vom 15. November 2023 (2 BvF 1/22) auf sich nehmen zu müssen. Diese Entscheidung, die dem Mißbrauch von „Sondervermögen“ zur Umgehung der Schuldenbremse jedenfalls entscheidende Grenzen gesetzt hatte, war in der Sache bereits das eigentliche Ende der rot-grün-gelben Koalition gewesen.
Seither war die Ampel eigentlich insolvent; was nach dem 15. November 2023 kam, war eigentlich nur noch Abwicklung und Um-sich-Schlagen, unter letztere Kategorie fiel übrigens auch die konzertierte „Correctiv“-Zeitungsente, in deren Zeichen das Jahr 2024 stand. Aber so wenig man bekanntlich Geld essen kann, so wenig kann man mit Empörung Rechnungen bezahlen (oder selbstgeschaffene Ansprüche bedienen).
Buschmann sieht weitere Gründe für Zerwürfnis
Eine Anfrage an Lindner vom Freitag abend, was der Bundeskanzler denn ganz genau von ihm verlangt habe, nachdem er die Schuldenbremse jedenfalls nicht einseitig hätte „aufheben“ können, ließ dieser bislang unbeantwortet. Der bisherige Justizminister Marco Buschmann (FDP) gab zu Protokoll, er persönlich „hege keinen Groll gegen den Menschen Olaf Scholz“. Angesichts der einigermaßen würdelosen Tiraden des Kanzlers gegen Buschmanns langjährigen Freund und Förderer Lindner wirkt das doch etwas überraschend.
Jedenfalls relativiert Buschmann die bisherigen Verlautbarungen über die Themen des letzten Ampel-Koalitionsausschusses seither und meint, es sei in Wahrheit „nicht nur“ um die Aussetzung der Schuldenbremse“ gegangen, sondern es seien ganz allgemein „Denkschulen“ im Hinblick auf Subventions- und Interventionspolitik „aufeinandergeprallt“.
Wie dem auch sei: Geht es nicht stark in Richtung (versuchte) „Nötigung von Verfassungsorganen“, wenn der Kanzler den Finanzminister mit der Drohung der Entlassung dazu zu bewegen versucht, zumindest seine fachliche wie öffentliche Zustimmung zu einem Vorhaben zu signalisieren, das dieser inhaltlich für verfassungswidrig hält? Immerhin regelt Paragraph 106 Absatz 1 Nr. 2c des Strafgesetzbuches:
Nötigung des Bundespräsidenten und von Mitgliedern eines Verfassungsorgans
(1) Wer
2. ein Mitglied
c) der Regierung oder des Verfassungsgerichts des Bundes oder eines Landes
rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel nötigt, seine Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar.
Die „Befugnisse“ eines Bundesministers sind dabei nur diejenigen, die ihm gerade kraft dieses Amtes verliehen sind. Es würde also nicht unter die Norm fallen, wenn man einen Bundesminister zu nötigen versucht, in seiner nächsten Wahlkampfrede bestimmte Wendungen zu gebrauchen. Die öffentliche Zustimmung zu oder Unterstützung von Regierungsinitiativen, die nach der wahren Auffassung des Ministers eigentlich verfassungswidrig sind und mithin auch dem Amtseid widersprechen (Art. 56 GG) dürfte jedoch sehr wohl unter die insofern gemeinten „Befugnisse“ des Finanzministers fallen, auch wenn dessen entsprechendes Handeln noch keine unmittelbaren Rechtsfolgen hätte, weil diese ja erst durch den Bundestag herbeigeführt werden könnten.
Eine unheimliche Atmosphäre macht sich breit
Jedoch: Unter der Drohung mit einem „empfindlichen Übel“ sind keine Ankündigungen zu verstehen, denen der Adressat „in besonnener Selbstbehauptung“ standhalten müßte. Die Drohung mit Entlassung gegenüber einem Bundesminister, der in Ressortverantwortlichkeit sein Ministerium führt (Art. 65 Abs. 1 Satz 2 GG) und den erwähnten Amtseid geschworen hat, könnte normativ den Minister nicht willenlos machen und – jedenfalls nach seiner Auffassung – zum Verfassungsbruch bestimmen.
Der Amtseid, der auf Einhaltung der Verfassung wie der Bundesgesetze gerichtet ist, wäre nichts wert, wenn der Minister zu seiner Erfüllung nicht die Entlassung aus seinem ohnehin nur auf kurze Zeit verliehenen Amt in Kauf nehmen müßte. Daher gilt umgekehrt, daß der Bundeskanzler mit Entlassung drohen darf, ohne daß dies strafrechtlich relevant wird.
Auch die Begleitmusik um das Ende der Ampelkoalition wirkt nur noch unheimlich. Wie eigentlich alles, was die Ampel seit dem 15. November 2023 getan hat. Man denke nur an die Äußerungen von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) auf Pressekonferenzen bereits im Februar 2024 über die geplante Aufgabe rechtsstaatlicher Gepflogenheiten gegenüber Oppositionellen, die sich keineswegs mehr auf die Legalität ihrer Handlungen und Äußerungen sollten berufen dürfen.
Bundeskanzler Phrasenschlumpf – so muß man ihn spätestens seit seinem Auftritt in der ARD-Sendung „Caren Miosga“ am Sonntag wohl nennen – warf seinem bisherigen Finanzminister am vergangenen Mittwoch wutentbrannt vor, dieser habe „zu oft“ Gesetze „sachfremd“, nämlich aufgrund von „ideologischen Forderungen“, über die Streit „öffentlich inszeniert“ worden sei, „blockiert“, was „verantwortungslos“ gewesen sei. Es drängt sich der Eindruck auf, daß mit „Verantwortung“ hier nur die Verlängerung der scholzschen Regierungszeit um jeden Preis gemeint sein kann. Mit „ideologischen Forderungen“, die ohnehin nur Inszenierungen seien, hingegen die Einhaltung des Grundgesetzes und der Bundesgesetze. Also: die Erfüllung des Amtseides.
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